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Hilfe heißt Entfernung aus der Familie

■ Gewalt gegen Kinder in Berlin (dritter Teil)/ Egal, wie schlimm der Druck zu Hause sein mag, nur die wenigsten Kinder belasten öffentlich ihre Eltern/ Lieber geben sie sich selbst die Schuld

Zwar ist es oft genug das Jugendamt, das um einen Platz in der Wohngruppe nachsucht, aber es gibt auch Fälle, in denen sich Eltern direkt an die »Kinderwohngruppe« in der Arno-Holz-Straße wenden, weil sie einfach nicht mehr weiterwissen. (Das Steglitzer Projekt existiert seit elf Jahren. Es bietet Kindern aller Altersklassen Zuflucht vor der Gewalt in ihren Familien. Näheres ist im gestrigen Teil nachzulesen. d. Red.) Zu verwirrend ist das dornige Gestrüpp ihres gewaltgefügten Beziehungsgeflechts, als daß sie noch verstehen könnten, was vor sich geht. Vielleicht wollen sie aber das Kind mit diesem Schritt auch einfach nur loswerden, wer weiß?

Für das Kind selbst bietet die Wohngruppe zunächst einmal eine Atempause von durchschnittlich zwei bis drei Monaten. Vielleicht gelingt es ihm in dieser Zeit sogar, Vertrauen zu fassen und Kontakt zu seinen Helfern zu bekommen. Angesichts der für viele von uns unvorstellbaren Erfahrungen, die diese Kinder machten, oft ein schwieriger Prozeß, den der Psychologe und Mitarbeiter der Wohngruppe, Claus-Peter Rosemeier, sowie seine KollegInnen begleiten müssen: »Die Kinder testen, ob sie uns wirklich vertrauen können, ob sie hier wirklich nicht verprügelt werden. Sie schmeißen beispielsweise die Möbel durch die Gegend, machen viele Dinge kaputt, nur um zu prüfen, ob sie dann immer noch gemocht werden. Das ist für uns oft eine harte Zeit, in denen wir regelrechte Kämpfe mit den Kindern ausfechten. Wir müssen einerseits immer wieder herausfinden, was die Kinder von uns brauchen, andererseits aber auch klare und harte Grenzen setzen. Bei alledem aber muß für das Kind klar sein, daß es bei uns bleiben kann.«

Gleichzeitig werden Gespräche mit den Eltern geführt und zuletzt die Frage geklärt, ob die Kinder wieder nach Hause können — ohne erneut in Gefahr zu geraten, wohlgemerkt. Ist dies nicht möglich, wird im Einvernehmen mit der Familie des Kindes über die Unterbringung in kleineren Heimen, Pflegefamilien oder über eine mögliche Adoption entschieden. Hilfe heißt durchaus auch Entfernung des Kindes aus der Familie.

Der Säugling mit den blauen Flecken kehrt also nicht unbedingt dorthin zurück, wo einst sein trügerisches »trautes Heim« war und das stumm gewordene Mädchen gerät nicht wieder in die Hände des mißbrauchenden Vaters. Erfolge sind das. Pyrrhussiege oft. Was von ihnen bleibt, sind die Bilder der Wohngruppen-Kinder in den Köpfen der Helfer. Die Erfahrungen und die Konfrontation mit der Tatsache alltäglicher Gewalt gegen Kinder berühren, tief drinnen. Claus-Peter Rosemeyer: »Bei meiner Arbeit gerate ich immer wieder mal in eine Krise. Das Gewaltthema kommt mir dann, vermittelt über Eltern und Kinder, so nahe, daß ich anfange darüber zu grübeln, was eigentlich mit mir selbst los ist. Ich muß Gefühle wie Wut, Entsetzen und besonders meine Trauer immer wieder neu bearbeiten, um meinen Alltag hier zu bewältigen.«

Diese Gefühle gehören für alle MitarbeiterInnen der Arno-Holz- Straße zur alltäglichen Arbeit und ein Stück weit auch zu der, die seit März dieses Jahres im Ostberliner Bezirk Hohenschönhausen geleistet wird. Dort langte es für das Kinderschutzzentrum gerade zur Einrichtung einer kleinen Familienberatungsstelle, die, besetzt mit Ostberliner Personal, einen zweiten Tropfen auf den heißen Stein des Bedarfs darstellt. Mehr nicht. Denn wer finanziert schon Einrichtungen wie diese — einige freie Träger unterstützt vom Senat. Und dessen Sparbeschlüsse sind häufig genug höchst gleichgültig gegen die Not der Kinder. Es ist diese Ignoranz, die Rosemeyer heftig kritisiert: »Es kostet sehr viel Mühe, die Aufmerksamkeit für die Belange der Kinder in der Öffentlichkeit und auch bei den Politikern wachzuhalten. Es sollte klar sein, daß hier Gelder bewilligt werden müssen, denn sonst findet diese Arbeit nicht mehr statt. Die Folgen ihrer Sparbeschlüsse sehen die Herren Politiker dann auf der Straße. Ihr kurzfristiges Politikdenken vernachlässigt einfach die langfristigen Folgen. Die Gewalt, die auf der Straße stattfindet, wird später nicht mehr als Folge des eigenen Sparkurses begriffen.«

Wohin mit dem Kind auf der Straße?

Nur eine tatsächlich emphatische Haltung der Erwachsenen könnte begreifen helfen: Für manche Kinder ist es oft nicht zum Aushalten. Wer den Zuständen seines Zuhause nicht mehr standhalten kann, der flüchtet. Zumindest für kurze Zeit. Und traut sich dann nicht mehr nach Hause. Doch wer abhaut, wird gesucht. Und gefunden. Vielleicht fallen der Junge oder das Mädchen einer Polizeistreife auf. Mitten in der Nacht. Wenn die Herren und Damen in Grün nicht wissen, wohin mit ihnen, dann gibt es zumindest einen zentralen Anlaufpunkt für sie: den »Kindernotdienst«. Der ist seit Neuestem zuständig für West und Ost.

Von außen wirkt das Haus in der Gitschiner Straße, direkt neben der Hochbahn, recht unscheinbar. Einer dieser Ziegelbauten eben, die einst zum Gaswerk des Bezirks gehörten. Doch als Elke Rowald, Mitarbeiterin im Notdienst-Team, den Autor dieser Zeilen durch das Innere des Hauses führt, wird ihm ganz warm ums Herz, weil er weiß, was für eine kalte Abstraktheit solche Einrichtungen vor einiger Zeit noch auszeichnete. Hier, in der 1978 gegründeten Nachfolgeeinrichtung des Hauptkinderheims in der Alten Jakobstraße, ist es heimelig für die Kinder. Möbel, Bilder — alles wurde mit Bedacht und Liebe ausgewählt. Garten und Sportplatz existieren ebenfalls. Sogar ein Toberaum mit Boxsack und Turnmatten steht zur Verfügung, aber auch eine Kuschelecke, um, vielleicht mit dem Daumen im Mund, still davon zu träumen, wie es sein könnte, wenn nicht, ja wenn nicht...

Der Idealfall: Ein Vater, der offen spricht

Wenn die Kinder nicht immer wieder zu »Fällen« würden. Zu Opfern von Delikten, wie sie in der ebenfalls stattfindenden Elternberatung für Elke Rowald täglich zur Sprache kommen: »Der letzte Mann in meiner Beratung hatte zusammen mit seiner Gattin die Stieftochter wiederholt sexuell mißbraucht. Er wollte sich zunächst mit der eigenen Trunksucht entschuldigen und wälzte die Schuld auf seine Frau ab: ‘Ne Frau muß doch auf so etwas aufpassen!‚ Der Mann war ziemlich hilflos und zuvor schon von seiner Frau bei der Polizei angezeigt worden. Das waren gute Voraussetzungen. Wir haben es geschafft, daß der Mann offen sprechen konnte und bewegten ihn zum freiwilligen Auszug aus der gemeinsamen Wohnung. Dadurch hat er dem Mädchen und den übrigen drei Geschwistern die Heimeinweisung erspart. Als es zum Prozeß kam, hat er vor Gericht alles zugegeben, was die Aussage der Tochter unnötig machte. Er wurde schließlich zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und macht jetzt eine Therapie.«

Damit wir uns richtig verstehen: Solch ein Beratungsergebnis ist ein Idealfall. Wie oft sperren sich Täter oder Täterinnen und zeigen sich keineswegs kooperativ: Soll das Kind nur nach Hause kommen. Wehe es sagt etwas, verrät uns... Gerade an diesem Punkt aber können Eltern- Täter weitgehend sicher sein: Egal, was ihnen passiert — die Kinder schützen Vater und Mutter, sie haben keine anderen. Sie geben nichts preis von dem, was sie wissen und bezichtigen sich in aller Stille eher selbst, schuld an Mißbrauch und Mißhandlung durch ihre Eltern zu sein. Es ist zum Heulen. Auch für Elke Rowald und ihren Kollegen Joesef Lennartz, die beide oft genug alle Symptome der erlittenen Gewalt deutlich sehen, aber dem Kind erst einmal nicht zum befreienden Ausdruck seines Leidens verhelfen können. Josef Lennartz befallen in solche Momenten nagende Zweifel: »Ich dachte eigentlich, daß ich mit der Zeit immer professioneller, immer cooler werden würde. Aber wenn ich gerade in letzter Zeit Kinder vor mir sehe, die schwer mißhandelt worden sind, dann geht mir das so nahe, daß ich nicht weiter mit ihnen arbeiten will. Dann springen halt mal die Kollegen ein. Wir fangen uns in solchen Augenblicken gegenseitig auf.«

Presseberichte sind oft kindergefährdend

Manchmal gilt es eben Halt zu suchen, um an den Leiden der Kinder und damit am Zustand dieser Welt nicht zu verzweifeln. Und man könnte doch meinen, auch die Vielzahl der Berichte in den Medien zum Thema würden so etwas wie Halt und Anerkennung für die Mitarbeiter des Notdienstes abgeben. Da bieten Prozesse Material für Schlagzeilen, erscheinen ganze Inzest-Serien, und vor allen Dingen macht die 'BILD‘- Zeitung immer wieder mobil in Sachen Gewalt gegen Kinder. Doch ist die Crux dabei, daß das vergewaltigte Kind nichts als ein Thema, ein Ereignis ist, das in gewohnter Manier vermarktet wird. Von einfühlsamer und hintergründiger Aufklärung keine Spur. Von daher sollte Elke Rohwalds Urteil bei den Überfliegern in Presse, Funk und Fernsehen Nachdenklichkeit auslösen: »Die Medien berichten immer dann von Gewalt und kochen sie hoch, wenn im Hintergrund viel staatliche Gewalt zu registrieren ist. Das lenkt ja wunderbar ab. Diesmal sind es also die bösen Jugendlichen und die armen Kinder, was ja durchaus zusammenhängt: Aus armen Kindern werden böse Jugendliche. Ich würde indes empfehlen, nicht so sensationell zu berichten, sondern deutlich zu machen, daß es bereits schädlich ist, sein Kind würdelos zu erziehen. Ein Klaps ist schon zuviel, ein Lachen über das Kind ist bereits zuviel, das Kind-klein-Machen ist zuviel. Man darf nicht schreiben, daß erst das Einschlagen des Kopfes Kindesmißhandlung ist. Dahinter können sich die Millionen von Eltern, die ihr Kind würdelos erziehen, verstecken. Insofern sind Presseberichte der sensationellen Art kindergefährdend.«

Mit anderen Worten wird die herrschende Berichterstattung auch die Eltern im Ostteil der Stadt nicht sensibel für den Umgang mit ihren Kindern machen. Denn wie bereits erwähnt wurde, sind es vor allen Dingen die Kinder, die dort zunehmend auf der Strecke bleiben. Sie haben keine Kategorien für das, was derzeit mit ihnen geschieht. Oft genug sind sie Projektionsflächen für Angst, Trauer und Wut ihrer Eltern, die ihrem Kind kaum zu helfen wissen, sind sie doch selbst oft hilflos genug — als ewig gegängelte, große, verantwortungslose und nun vollverwaiste Kinder des zerborstenen Sozialismus. Dies ist eine Problematik, die Elke Rowald besondere Schwierigkeiten bereitet: »Wir können den Kindern aus den Ostberliner Bezirken kaum helfen, weil deren Eltern uns nicht vertrauen. Ich bin schon ganz zynisch geworden und habe gesagt, daß ein paar hundert Kinder auf der Strecke bleiben werden, ‘Wende-Kinder‚ würde ich sie nennen. Wir haben immer mehr Treber in Ost-Berlin und wenn solche zwölf- bis vierzehnjährigen Jungen hier auftauchen, dann können wir sie nirgendwo anbinden. Die kommen her, schlafen sich eine Nacht aus und weg sind sie. Die Kinder haben keine Rezeptoren für unsere Sprache, sie halten uns für dämlich, weil wir immer nur mit ihnen reden. Wir können mit ihrer Ungebildetheit einfach nicht umgehen. Bei diesen Kindern stehe ich mit meiner Ausbildung häufig vor dem Nichts.«

Der einen fehlen die Worte, dem anderen sind sie Folter. Es gibt verbalgewaltige Vorwürfe, die bohren. Sie bohren mit erbarmungsloser Stetigkeit das Selbstwertgefühl des Kindes an: »Ich bin nichts wert, Ich mache alles falsch« — Die Signale stehen auf: »Du bist nicht perfekt genug, nur wenn du perfekt bist, lieben wir dich. Du zerstörst uns. Du bist an all unserem Unglück Schuld« — Die Welt steht Kopf. Detlef Berentzen

Detlef Berentzen ist freier Autor und Journalist für Printmedien, Rundfunk und Fernsehen sowie Redakteur der Zeitschrift für Kindheit 'enfan't‘. Der letzte Teil der Serie erscheint am Montag.

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