: Eine Depression schleicht durch die USA
Der Pessimismus über die Wirtschaftslage erreicht jetzt auch das Weiße Haus und die Notenbank, doch im Wahljahr 1992 fehlt die politische Courage zu Strukturreformen/ „Kreislauf der Angst“ ■ Aus Washington Rolf Paasch
Befinden sich die USA in der längsten Rezession ihrer Nachkriegsgeschichte? Selbst die Berufsoptimisten der Bush-Administration scheinen diese ernüchternde Diagnose nicht mehr ausschließen zu wollen. Nachdem er die Rezession zunächst ignoriert, dann vorschnell für beendet erklärt und schließlich als selbstkorrigierend abgetan hatte, muß nun auch Präsident George Bush erkennen, daß er es hier nicht mehr mit einer gewöhnlichen Wachstumsschwäche zu tun hat.
Denn nach den beiden letzten müden Wachstumsquartalen droht nun gegen Jahresende der erneute wirtschaftliche Einbruch. Der industrielle Output sank im November wieder unter die Stagnationsmarke; der Wohnungsmarkt — in den USA traditionell der Zündfunke für jeden konjunkturellen Kaltstart — kontrahiert weiter, und die großen „Corporations“ kündigen gerade die nächste Entlassungswelle an. 74.000 Angestellte bei General Motors, 20.000 bei IBM und mehrere Tausend bei Kodak, Rank Xerox und dem TRW- Konzern: Viele Großunternehmen entledigen sich jetzt ihrer in den expansiven achtziger Jahren erworbenen Personalüberhänge, vor allem in den ineffizienten Verwaltungsabteilungen.
Diese Arbeitsplatzverluste gerade im sonst eher konjunkturunabhängigen Bereich der „white collar workers“ drohen unterdessen, die nationale Kaufkraft und das Vertrauen in die Wirtschaft weiter abzuschwächen. „Konsumenten und Corporations“, so der Wirtschaftsexperte Edward McKelvey vom Brokerhaus Goldman Sachs & Company, „befinden sich in einem Kreislauf der Angst.“
Allein mit Steuererleichterungen, dem wirtschaftspolitischen Null- acht-fünfzehn-Rezept der Reagan- Jahre, so mußte Notenbankchef Alan Greenspan in dieser Woche zugeben, wird der drohende „double dip“ eines doppelten Wirtschaftseinbruchs nicht mehr zu verhindern sein. Um die Bevölkerung bis zu seiner traditionellen Erklärung zur „Lage der Nation“ Ende Januar zu beruhigen, ließ George Bush am Dienstag seine Pläne eines einmaligen Steuergeschenks von 300 Dollar an alle US- AmerikanerInnen an die Öffentlichkeit dringen — damit die wirtschaftspolitische Hilflosigkeit seiner Administration die Familiengespräche am Gabentisch nicht allzu sehr dominiert.
Denn nur noch ein Viertel der US- BürgerInnen glaubt an die Kompetenz ihres Präsidenten in der Wirtschaftspolitik. Sogar George Bushs generelle Popularitätsrate ist in diesen Tagen erstmalig unter die Fünfzig-Prozent-Marke gefallen. Konnte sich Ronald Reagan 1984 seine Wiederwahl noch mit der Frage an die WählerInnen sichern, ob es ihnen denn besser gehe als vier Jahre zuvor, so sollte George Bush diese Frage im kommenden Wahlkampf besser nicht mehr stellen.
Um diesen Wahlkampf — und nicht etwa um die strukturellen Ursachen der wirtschaftlichen Malaise — wird es denn auch in der wirtschaftspolitischen Diskussion des Wahljahres 1992 gehen, die jetzt bei den Anhörungen der parlamentarischen Fachausschüsse auf Capitol Hill vorbereitet wird. Hier üben sich die Politiker beider Parteien nicht etwa in der Rolle des wirtschaftspolitischen Weisen, sondern des wiederwahlsüchtigen Weihnachtsmannes. Die Republikaner wollen eine Senkung der Kapitalertragssteuer, um neue Investitionen zu ermutigen. Die Demokraten versprechen eine umverteilende Senkung der Steuerbelastung für die „middle class“, um den Verbrauch wieder anzukurbeln.
Dabei reichen die Ursachen für den gegenwärtigen Konsumrückgang und die Schwäche der US-Wirtschaft bis in die frühen siebziger Jahre zurück. Inflationsbereinigt, so rechnet der Wirtschaftswissenschaftler Wallace Peterson in seinem Aufsatz Die schleichende Depression jetzt vor, seien die Löhne bereits seit dem ersten Ölpreisschock von 1973 gefallen. Trotz der angeblichen Prosperität der Reagan-Jahre lag das wöchentliche Durchschnittseinkommen des US-Arbeiters 1990 um 19,1 Prozent unter jenem des Jahres 1973.
Überdeckt wurde dieser Trend lediglich durch die auf den Arbeitsmarkt drängenden — oder gedrängten — Frauen. Nur sie haben das durchschnittliche Einkommen der US-Haushalte bis heute stabil halten können. Das Hauptproblem der gegenwärtigen wirtschaftlichen Malaise seien demnach nicht zu hohe Steuern, argumentiert der liberale New Yorker Wirtschaftsprofessor Robert Heilbroner, sondern zu niedrige Löhne.
Doch mehr, als ihre Frauen zur Arbeit zu schicken, um ihre zwei Autos und die Studiengelder für die Kinder zu finanzieren, können auch die Mitglieder der amerikanischen Mittelklasse nicht tun. Wenn jetzt in der Rezession nur einem der beiden Brotverdiener der Verlust des Arbeitsplatzes droht — jeder fünfte Haushalt hatte 1990 ein Familienmitglied zumindest zeitweise in der Arbeitslosigkeit —, dann bedarf die gegenwärtige ökonomische Angstpsychose der „middle class“ kaum noch einer Erklärung.
Der amerikanische Traum, wonach es die Kinder besser haben würden als ihre Eltern, scheint für viele nun plötzlich ausgeträumt. Und genau hierin liegt der politische Zündstoff der nicht wieder in Gang kommenden Volkswirtschaft, ob das Wirtschaftswachstum im letzten Quartal dieses Jahres nun minus ein Prozent oder plus ein Prozent betragen wird.
Liberale Kritiker der Bush-Administration schlagen deswegen ein keynesianisches Investitionsprogramm vor, wie es nach der Großen Depression in den dreißiger Jahren von Präsident Roosevelt durchgesetzt wurde. Der 'Business Week‘- Kolumnist Robert Kuttner spricht sich für öffentliche Infrastrukturinvestitionen in Höhe von 100 Milliarden Dollar aus. Professor Heilbroner will gar die stattliche Summe von 850 Milliarden Dollar für öffentliche Investitionsprogramme ausgeben. Aufgetrieben werden sollen diese Mittel durch eine Halbierung des knapp 300 Milliarden Dollar schweren Verteidigungsetats, durch eine Kreditaufnahme von weiteren 200 Milliarden Dollar und durch Steuererhöhungen für die Besserverdienenden von 500 Milliarden Dollar.
Scheitern werden solche Vorschläge allein schon deswegen, weil sie kurzfristig kaum die von der Politik erwünschten Ergebnisse bringen werden. Statt dessen werden sich Republikaner und Demokraten zu Jahresbeginn wahrscheinlich auf einen vordergründigen Kompromiß aus Steuererleichterungen und Investitionsanreizen einigen, der die tieferliegenden Ursachen der Wirtschaftskrise weiter vernachlässigt: die nicht rasch genug steigende Produktivität, die Überschuldung von Staat, Unternehmen und Haushalten, das wacklige Bankenwesen, das schwerkranke Gesundheitswesen, die verfallende Infrastruktur und die Bildungsmisere.
Bleibt noch die Frage, wann denn in den Vereinigten Staaten endlich die Wirtschaftspolitik des Vergnügens durch eine Politik der schmerzhaften Strukturreformen abgelöst wird. Die Antwort lautet wie ehedem: nicht in diesem Jahr und auch nicht im nächsten.
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