DIE ALTE ERDE: Kranker Organismus Erde
■ James Lovelock ist der Vater der Gaia-Theorie, die unseren Planeten als eine Art „Superorganismus“ begreift, der die für das Leben geeigneten Bedingungen selbst reguliert. Gaia zeigt Symptome einer Krankheit – vom Treibhauseffekt über den sauren Regen bis hin zum Ozonloch – und braucht eine „planetarische Kur“, die sich nicht nur auf die Naturwissenschaften stützen sollte, sondern auf Spekulation wie Empirie. Vielen anderen Wissenschaftler hat die Gaia-Theorie den Anstoß zu neuen Experimenten gegebe. Nigel William besuchte den britischen Chemiker JAMES LOVELOCK
Lovelock, ein herausragender Naturwissenschaftler, der während des Zweiten Weltkriegs am National Institute for Medical Research in London zu arbeiten begann, hat die Naturwissenschaften als akademisches Fach 1964 aufgegeben und betreibt seitdem private Forschung, gegenwärtig in seinem Haus und Laboratorium in einem entlegenen Ort Südwestenglands. Er befürchtet, daß die Naturwissenschaften die Probleme aus den Augen verlieren, mit denen wir konfrontiert sind.
„Die neueren Expertenwissenschaften haben eine enge, reduktionistische Sicht, wenn sie Details und Prozesse innerhalb ihrer jeweiligen Sparten studieren. Sie sehen zwar, daß das Leben auf der Erde seine Umwelt ebenso beeinflußt wie es sich ihr anpaßt. Aber sie haben die große Vision verloren, die das Leben und seine Umwelt als ein einziges System ansah.“ Lovelock datiert diese große Vision zurück auf den Geologen des 17.Jahrhunderts James Hutten, der den Wasserzyklus der Erde mit dem damals von William Harvey neu entdeckten Blutkreislauf verglich. Er glaubt, daß Gaia dieser Vision entspricht und daß künftige Umweltstrategien darauf aufbauen müssen.
„Die Idee Gaia kam ganz plötzlich, wie ein erleuchtender Blitz“, sagt Lovelock. Er arbeitete in den 60er Jahren gerade im Düsentriebwerkslaboratorium der NASA an Methoden zum Aufspüren von Leben auf anderen Planeten. Er und ein Kollege vertraten die These, die Atmosphäre eines toten Planeten würde sich in der Nähe eines Gleichgewichtszustands befinden, d.h. alle möglichen chemischen Reaktionen wären abgeschlossen, und die Atmosphäre wäre den Abgasen eines Autos oder Schornsteins vergleichbar. Ein Planet, auf dem Leben existiert – Leben, das die Atmosphäre als Rohstoffquelle und Abraumhalde nutzt – hätte eine andere Atmosphäre.
„Unter dieser Prämisse sind wir durchgegangen, was wir über Mars und Venus wissen. Wir haben entdeckt, daß sich beide Atmosphären nahezu im Gleichgewichtszustand befinden, wie verbrauchte Gase. Um die Vorhersage zu bestätigen, haben wir die Erdatmosphäre betrachtet, und zu unserer Freude fanden wir einen Zustand erheblicher Ungleichgewichte, mit Gasen, die miteinander reagieren wie Sauerstoff und Methan. Die Atmosphäre verhält sich wie ein verdünntes Brennstoffgemisch... Dies war der Augenblick, in dem ich Gaia erblickt habe. Die Erdatmosphäre war eine außerordentlich instabile Gasmischung, aber diese blieb in ihrer Zusammensetzung über lange Zeiträume hinweg konstant. Konnte es sein, daß das Leben nicht nur eine Atmosphäre schuf, sondern sie auch regulierte?“
Lovelock war an den folgenden Viking-Expeditionen zum Mars beteiligt, aber seine Resultate haben das Projekt nicht beeinflußt. „Die Mission war eine Verschwendung der idiotischen Großwissenschaft, die davon überzeugt war, daß es Leben auf dem Mars gebe, als es ganz offensichtlich war, daß es keines gab. Sie haben ihr ganzes Projekt nach dieser Idee zugeschnitten, anstatt bei dieser seltenen Gelegenheit zweier Weltraummissionen so viel wie möglich über den Planeten zu lernen.“
Die Idee zur Gaia-Theorie, die Lovelock zum ersten Mal 1968 in der Dokumentation der Amerikanischen Astronautischen Gesellschaft veröffentlichte, die aber erst einige Jahre später auf Anregung seines Nachbarn, des Romanautors William Golding, so benannt wurde, hat seitdem enorm an Einfluß gewonnen. Viele Wissenschaftler lehnen sie allerdings ab: Der Planet kann nicht zeugen, daher kann er nicht lebendig sein – das ist einer der Kritikpunkte der Hardliner unter den Biologen. Aber anderen hat sie den Anstoß für Experimente gegeben, und jenseits der Naturwissenschaften hat sie für einige Leute so etwas wie eine spirituelle Qualität gewonnen. Vor drei Jahren war Gaia zum ersten Mal Thema einer amerikanischen naturwissenschaftlichen Konferenz, und die herausragende Zeitschrift 'Nature' schrieb, daß der Realitätsgehalt der Theorie möglicherweise weniger wichtig sei als die Tatsache, „daß sie anregt“.
Aber, frage ich Lovelock, ist nicht das wachsende Umweltbewußtsein ein Zeichen dafür, daß die Wissenschaft zumindest die Bedeutung der planetarischen Diagnose, wenn nicht gar Therapie anerkannt hat? Sowohl die NASA als auch die Europäische Raumfahrtbehörde haben unter dem Titel „Mission Erde“ eine Serie von Umwelt-Beobachtungssatelliten gestartet. „Sie haben ein enormes Potential, das sie fast mit Sicherheit nicht nutzen werden. Das beste Beispiel ist der erschreckende Skandal mit der Weltraummission, die das Ozonloch finden sollte. Die Instrumente haben das Loch entdeckt, aber die Wissenschaftler auf dem Boden waren so sicher, daß es so etwas nicht geben dürfe, weil die Modelle es nicht prognostiziert hatten, daß sie ihre Instrumente daraufhin pogrammierten, es zu ignorieren. Es mußten zwei altmodische britische Wissenschaftler kommen, die mit einem einfachen handgesteuerten Gerät nach oben guckten, um es zu finden. Ich glaube, daß in dieser Geschichte eine große Moral steckt. Es ist falsch, die Forschung mit einem derart gigantischen Apparat zu betreiben. Für die Ozonforschung werden ungeheure Summen ausgegeben. Aber wir wissen, wie das läuft, und wir kennen die Therapie. Wir brauchen ein paar Beobachtungssatelliten und ein bißchen Diät.
Lovelock sieht in diesen Beispielen die Schwäche der Naturwissenschaften als einer menschlichen Einrichtung, die unzulänglich ist und mit akuten Umweltproblemen schlecht umgehen kann. „Die Wissenschaft konzentriert sich fast ausschließlich auf kleinere Probleme, die die Öffentlichkeit beunruhigen, zum Beispiel karzinogene Stoffe in der Umwelt oder Phänomene in der Stratosphäre, die für Wissenschaftler außerordentlich interessant sind, aber als Umweltprobleme mit etwas gesundem Menschenverstand leicht zu lösen wären.“
Außerdem warnt er davor, die Wissenschaftler zu Entscheidungen zu drängen. Es würden von ihnen Antworten gefordert, die sie nicht geben könnten. Notwendig wäre eine Planetarmedizin, die auf Spekulation und Empirie beruht. Er weist auf die Physiologie hin, die im 18. und 19.Jahrhundert die empirische Humanmedizin untermauert hat und es den Ärzten ermöglichte, sich einen Weg durch wissenschaftliche Ungewißheiten zu bahnen. „Ich sage nicht, daß wir unseren Reichtum an wissenschaftlichen Erkenntnissen wegwerfen, und erst recht nicht, daß wir wissenschaftliche Methoden aufgeben sollten. Aber ich schlage vor, daß wir noch einmal überprüfen sollten, ob eine physiologische Sicht besser erklären und vorhersehen kann, was als nächstes passiert.“ Nach seiner vernünftigen physiologischen Beurteilung des Dilemmas, in dem die Erde steckt, rangiert ein Problem ganz vorn.
Die größte Bedrohung ist die Zerstörung natürlicher Lebensräume durch großflächige Landwirtschaft, besonders in den tropischen Regenwäldern. „Dieses Problem ist ungleich größer als alle anderen. Mit Spezialsatelliten, die nicht unbedingt teuer sein müssen, könnte man eine Weltkarte aufzeichnen und ständig auf dem neuesten Stand halten. Das wäre ein Riesenpotential. In den Tropen leben eine Milliarde Menschen, und wenn die Zerstörung im heutigen Tempo weitergeht, werden bis zum Jahr 2010 alle Wälder verschwunden sein. Die bisherigen Untersuchungen zeigen, daß alles Buschland oder Wüste wird. Wer wird diese Menschen ernähren? Wie werden wir mit den Flüchtlingen zurechtkommen? Das alles passiert gleich nebenan und ist viel wichtiger als das Ozonloch.“
James Lovelock
ist einer der bekanntesten Wissenschaftler in Großbritannien. Der Chemiker ist Inhaber zahlreicher Patente und schrieb unter anderem“The Age of Gaia.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen