DIE ALTE ERDE
: Das fehlende Glied in der Kette

Fossilienfunde, Knochen und Werkzeuge früher Menschen regen zu neuen Hypothesen über den Ursprung des Menschen an. Lebten die ersten Menschen wirklich in Ostafrika? Vergleicht man die genetischen Informationen von Schimpansen und Menschen, so sieht man, daß sie zu 99 Prozent identisch sind. Doch wonach die Archäologen bisher vergeblich gebuddelt haben, ist das Fossil eines gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Affe. Immer noch ist die Paläontologie auf Zufallsentdeckungen angewiesen, deren Ergebnisseoft widersprüchlich sind. Und so hat die Landkarte von den Wanderungen unserer Vorfahren noch viele weiße Flecken.  ■ VON DOMINIQUE LEGLU

Gewiß, es gibt noch Wunder. Ein Tauchgang im Mittelmeer in der Nähe von Cassis führt den Neugierigen zu einem langen Tunnel. Am Ende findet der verblüffte Taucher, eingeschlossen in eine Luftblase, eine wunderbare Höhle, ein „neues Lascaux“. Und dann dieser eingefrorene Mann, der von einem Bergsteigerpaar auf dem österreichischen Gletscher Similaun gefunden wurde und der vielleicht 4.000 Jahre alt ist, nebst Waffen und Schnappsack. Die Entdeckung einer wunderbar verzierten Grotte in der Nähe von Marseille im letzten Sommer und dann im Herbst die Auffindung einer Mumie aus dem Bronzezeitalter gehören zu den großen Entdeckungen auf dem Gebiet der Vorgeschichte. Da sind noch viele zufällige und fabelhafte Funde zu erwarten. Dinge, mit denen man die Legenden der Entdecker von Grotten, Grabstätten, Schädeln und Schmuckstücken weiterhin nähren kann.

Aber wie soll man unter diesen Bedingungen die künftigen Entdeckungen „wissenschaftlich“ angehen? Entdeckungen, die unsere Kenntnisse über den Ursprung des Menschen vergrößern und die uns Aufschluß über das geben, was einmal war. Die Archäologen wissen, daß sich Entdeckungen auf diesem Gebiet nicht programmieren lassen. Aber man kann die Forschung in bestimmte Richtungen lenken. Und diese Forschung geht weit darüber hinaus, nur Gegenstände ans Licht zu bringen, die dann in den Vitrinen der Museen angehäuft werden. Sie hat sich mit Hypothesen auseinanderzusetzen, die sich auf der Grundlage früherer Entdeckungen nach und nach herausgebildet haben.

Will man die Geheimnisse der frühen Vorfahren des Menschen entschlüsseln, muß man sich zwangsläufig auch mit den Vorfahren der Menschenaffen beschäftigen. Und das aus vielen Gründen. Zum Beispiel, um genauer zu bestimmen, wann sich die Wege der beiden getrennt haben, wo sie entstanden sind und welches ihre jeweiligen Merkmale sind. Die neuesten Untersuchungen, die auf einem Vergleich des genetischen Erbes des Menschen und des Schimpansen beruhen, haben bereits zu einer bösen Überraschung geführt: Zu 99 Prozent handelt es sich um das gleiche. Nur 1 Prozent macht den Unterschied aus. Und das gibt, neben anderem, einen gewissen Hinweis auf ihre Evolution. Nachdem man – zumeist sehr schwierige – Berechnungen über die Rhythmen dieser Evolution, über die „molekularen Uhren“ im Inneren des Organismus angestellt hat, kann man bereits bestimmte Schlußfolgerungen ziehen: Die Trennung zwischen uns und unserem nächsten Affen-Cousin hat weder sehr früh stattgefunden (nämlich vor ungefähr 35 Millionen Jahren), wie man lange geglaubt hat , noch sehr spät, vor nur 5 Millionen Jahren. Im Jahre 1981 hat der Genetiker Allan Wilson die Vermutung geäußert, daß die Trennung vor sieben Millionen Jahren erfolgt ist. Doch gibt es bei solchen Berechnungen zu viele unbekannte Faktoren. Besser wäre es, man hätte ein gut erhaltenes Fossil zur Hand.

Ging der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpansen aufrecht?

Man kann sich z.B. fragen, ob der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse weder dem einen noch dem anderen ähnelt. Vielleicht war er bereits ein Zweifüßler, vielleicht ging er schon aufrecht auf seinen beiden Hinterbeinen. Hat der Schimpanse dann aufgrund seiner Lebensweise wieder begonnen, auf allen vieren zu laufen (allerdings oft von einer aufrechten Haltung unterbrochen), während der Mensch seine Vorliebe für eine zweifüßige Karriere weiterentwickelt hat? Reichliche Fossilienfunde, und nur sie, könnten zu einer Entscheidung bei dieser Art von Hypothesen beitragen. Wie heute manche Forscher sagen: „Alles, was man zwischen einer und fünf Millionen Jahren finden kann, ist wichtig.“

Vor einigen Monaten hat ein Unterkiefer die gesamte wissenschaftliche Welt in Aufregung versetzt. In einer alten Kupfermine im Norden Namibias hat eine Gruppe unter der Leitung von Glenn Conroy von der Universität Saint-Louis (USA) ein sehr altes Exemplar gefunden, zwölf Millionen Jahre alt, das „von einem gemeinsamen Vorfahren des Menschen und der Menschenaffen“ stammt, wie Brigitte Senut vom Museum für Naturgeschichte berichtet, die an der Expedition teilgenommen hatte. Und schon dieser Unterkiefer, den man fieberhaft an Ort und Stelle mit weißem Essig gereinigt hat, war eine große Überraschung. Wieso konnte man ihn südlich des Äquators finden, während alle anderen Reste von Hominiden im Norden entdeckt wurden? „Man hatte daraus immer geschlossen, daß Südafrika zu heiß war, um höhere Primaten beherbergen zu können“, erinnert Brigitte Senut. Irrtum, die Primaten haben offensichtlich nicht nur Ostafrika durchmessen, das bis heute die Wiege des afrikanischen Menschen und Menschenaffen zu sein schien. Ein neuer Knochenfund, und die Paläo-Anthropologen müssen ihre Hausaufgaben noch einmal machen!

Aber es müßte heute doch noch bessere Methoden geben, um die Knochenjagd ertragreicher zu machen. Insbesondere einige Gewebereste am Knochen wären hochwillkommen. Aus den Kollagen dieser Gewebe könnte man vielleicht Aminosäuren extrahieren, d.h. Reste der berühmten DNS, die in den Zellen genetische Informationen speichert. Damit könnte man endlich eine Verbindung zwischen dem genetischen Zustand des fossilen Menschen und seinem Aussehen herstellen.

Fände man eine größere Menge von Fossilien mit Geweberesten, wäre die Umwälzung noch größer: Eine neue Datierung der Spaltung in Menschen und Menschenaffen und unter den Menschenaffen wäre in Sicht. Oder auch ein besserer Überblick über die Wanderung all dieser Säugetiere in Afrika und auf der ganzen Erde. Denn unsere Karte von der Eroberung der Erdkugel durch den Vorfahren des Homo ist noch sehr unvollständig. Zur Zeit hat man nur die berühmten Fußspuren von Laetoli (Australopithekus, 3,7 Millionen Jahre alt) in Ostafrika, wo der Homo später seine spärlichen Spuren hinterlassen hat.

Wann kam der Mensch nach Amerika?

Wann hat er sich hier oder dort zum ersten Mal niedergelassen? Welche Entwicklungsstufe hatte er erreicht? Gab es eine Vermischung verschiedener Volksstämme oder haben diese Stämme nebeneinander gelebt, wie man sich immer wieder beim Neandertaler und bei den „modernen Menschen“ in Europa fragt? Wann ist der Mensch in China angekommen? Und wann in Japan? Es gibt dort viele Fundstätten mit 300.000 Jahre alten Werkzeugen, aber vielleicht ist der Mensch doch noch früher gewesen. Heftig gestritten wird derzeit auch darüber, wann der Mensch zum ersten Mal seinen Fuß auf Amerika gesetzt hat. Der Streit erregt die Gemüter vor allem in Südamerika, wo Forschungsgruppen in Chile, in Brasilien und in Peru graben. So hat z.B. das Team der Archäologin Niede Guidon in Brasilien am Fuße gewaltiger Felswände zahlreiche Feuerstätten gefunden, die mehr als 32.000 Jahre alt sind.

Nur eines ist gewiß: Je mehr man in der Zeit zurückgeht, um so spärlicher werden die Spuren und um so unvollkommener sind unsere Kenntnisse. Auch wenn man weiß, daß Homo zu einer bestimmten Epoche hier oder dort vorbeigekommen ist, so würde man sich doch wünschen, daß seine Spuren etwas aussagekräftiger wären. Für die am weitesten zurückliegenden Phasen bleibt die Untersuchung der Fossilien oft sehr unbefriedigend. Man hat Werkzeuge gefunden, die 2,5 Millionen Jahre alt sind. Aber dabei handelt es sich in den meisten Fällen um Einzelstücke. Die Entdeckung einer reichen Lagerstätte, die einigen Aufschluß über diese weit zurückliegenden Zeiten geben könnte, ist zweifellos einer der größten Wünsche der Prähistoriker. Die Menschen, die uns näher stehen, wie z.B. die Cromagnon-Menschen, scheinen für uns im Vergleich dazu kaum noch Geheimnisse zu haben. Man sieht geradezu, wie sie essen, jagen, ihre Toten begraben, Schmuck herstellen, ihre Höhlen verzieren... Aber was haben unsere Vorfahren vor zwei Millionen Jahren in Afrika gemacht? Wo haben sie gewohnt? Wie haben sie gejagt? Was haben sie gegessen? Haben sie in Horden gelebt? Darüber wissen wir fast nichts.

Eine sehr vielversprechende Fundstätte ist kürzlich im Süden Äthiopiens in der Nähe der Grenze zu Kenia gefunden worden: die älteste Fundstätte, die jemals entdeckt wurde (zwei Millionen Jahre alt), in der sich Tausende von Fundstücken befinden... So etwas läßt den Spezialisten den Speichel im Mund zusammenlaufen. Ihnen, die oft mit ihrer Geduld fast am Ende sind und stöhnen: Oh, wenn ich doch nur einen ganzen Schädel finden könnte, und nicht immer nur nur ein oder zwei Zähne!

Dominique Leglu schrieb vor zwei Jahren das Buch“Supernova“. Die promovierte Atomphysikerin leitet das Ressort Wissenschaft bei der französischen Tageszeitung Liberation.