DER NEUE MENSCH
: Der Traum von der Unsterblichkeit

Der Forschungsaufwand, um den Menschen das Leben zu verlängern, steigt permanent. Und tatsächlich nimmt die Lebenserwartung in unseren Breiten zu. Doch wir altern, weil unsere Anlagen nicht auf das unbegrenzte Überleben des einzelnen Individuums ausgerichtet sind, sondern auf Fortpflanzung und damit den Erhalt der Gattung insgesamt. Eine beliebige Lebensverlängerung scheitert an der biologischen „Konstruktion“ des Menschen.  ■ VON ROBIN HOLLIDAY

Immer mehr Menschen erreichen eine Lebensphase, in welcher der natürliche Alterungsprozeß deutlich wahrnehmbar wird. Das Versagen des Gehirns führt zur Demenz; das Gefäßsystem verfällt, und die Gefahr von Herzkrankheiten oder Infarkten nimmt ständig zu; grauer Star und die Schwächung der Netzhaut verursachen Blindheit; Störungen des Insulinstoffwechsels führen zu Altersdiabetes; Defekte im Immunsystem lösen autoimmune Reaktionen aus, bis hin zur Osteoarthritis; Kalziumverlust in den Knochen und Osteoporose (besonders bei Frauen) steigern das Risiko von Knochenbrüchen; die Häufigkeit vieler Krebsarten steigt steil an. Mit einem Wort, Altern kann als ein Bündel von Krankheiten beschrieben werden. Die Vielzahl der Altersfolgen führt dazu, daß auf die erfolgreiche Behandlung einer Störung schon bald eine andere Krankheit folgt, die behandelt werden muß. Medizinische und geriatrische Betreuung ist eine kostspielige und verlorene Schlacht. Sie ist ein gutes Beispiel für das Gesetz des sinkenden Ertrages: Mit dem zunehmenden Alter des Patienten wird der Erfolg der Pflege geringer. Gibt es Lösungsmöglichkeiten für dieses scheinbar ausweglose Problem?

Um eine Antwort zu finden, muß man zunächst die grundlegenden biologischen Probleme des Alterns begreifen. Aus den Untersuchungen in der Biochemie, Physiologie und Anatomie geht hervor, daß die entwickelte Form des Organismus mit ständigem Weiterleben unvereinbar ist. Dafür gibt es jedoch keinen immanent biologischen Grund. Viele Pflanzen oder einfache Tiere befinden sich schließlich in einem stabilen Zustand: Wenn Zellen oder größere Teile des Organismus ihre Funktion verlieren, werden sie einfach aus einer Reserve junger Zellen ersetzt, die nie aussterben.

Diese Fähigkeit, beschädigte Zellen und beschädigtes Gewebe ständig zu ersetzen, ist im Entwicklungsprozeß der Tiere verlorengegangen. Das Gehirn zum Beispiel besteht vorwiegend aus Neuronen genannten Zellen, die sich nicht teilen können. Früher oder später wird etwas eintreten, das sie tötet. Dies können Beschädigungen der DNA, eine Ansammlung anormaler Proteine oder Schäden in der Membranstruktur sein, und nichts davon ist auf der Zellebene reparabel. Da die verlorenen Zellen nicht aus einer Reserve von nicht alternden Zellen ersetzt werden können, läßt die Gehirnfunktion schließlich nach. Das gleiche gilt für langlebige Muskelzellen, besonders die des Herzens, und nicht teilbare Zellen in anderen Geweben.

Ein weiteres Beispiel für den unaufhaltsamen Verfall ist die Tatsache, daß viele individuelle Proteinmoleküle im Körper sehr langlebig sind und nicht ersetzt werden. Die Augenlinse besteht weitgehend aus dem Protein Kristallin, das in einer frühen Entwicklungsphase festgelegt wird. Solche Proteine müssen ein Leben lang halten, weil sie nicht ersetzbar sind. Proteine sind einer Vielzahl von chemischen Veränderungen ausgesetzt, die zu einem Verlust ihrer normalen Funktion führen. Andere Proteinfasern wie Collagen und Elastin sind auch sehr langlebig, und es ist erwiesen, daß sie ihre normalen Eigenschaften durch chemische Querverbindungen zwischen verschiedenen Molekülen mit dem Alter verlieren. Daher werden Strukturen, die elastisch sein sollten, wie die Arterienwände, hart und steif. Das wiederum führt zu hohem Blutdruck und anderen Schäden der Blutgefäße. Eine Untersuchung der Zellen, Gewebe und Organe des Körpers zeigt weitere Beispiele für eingebauten Verschleiß, der unumgänglich zum Altern und zum Tod führt. Vor mehr als hundert Jahren hat der deutsche Zoologe August Weismann als erster den fundamentalen Unterschied zwischen Keimzellen, die für Abkömmlinge und zukünftige Nachkommen sorgen, und dem Soma (Körper) klargestellt. Während die Keimzellen potentiell unsterblich sind – sonst würden wir als Gattung nicht überleben – sind die Zellen des Soma sterblich.

Das duale System von sterblichen und „unsterblichen“ Zellen: eine erfolgreiche Überlebensstrategie der Spezies

Es hat sich gezeigt, daß dieses duale System von sterblichen und unsterblichen Zellen ganz einfach eine sehr erfolgreiche Überlebensstrategie ist. Organismen bilden sich zur Reife heran und reproduzieren sich, aber die natürliche Umgebung, in der sie sich entwickelt haben, ist voller Gefahren. Nur wenige Tiere können Raubtiere, Hunger, Dürre oder Krankheit lange überleben. Es steht fest, daß es in einer solchen Umgebung nur selten greise Tiere gibt. Es ist daher biologisch sinnvoll, eher ein Tier zu entwickeln, das ein Höchstmaß der Ressourcen in die Reproduktion steckt, als eines, das unbegrenzt lebensfähig ist. Wir altern, weil wir nicht genügend metabolische und zellulare Ressourcen in die Erhaltung des Soma investieren. In darwinistischer Terminologie wäre es kontraproduktiv, das Soma unbegrenzt aufrechtzuerhalten, weil dies nur dadurch möglich wäre, daß Ressourcen umgelenkt werden, die für die erfolgreiche Reproduktion gebraucht werden.

Viel Geld wird in die Erforschung altersbedingter Krankheiten gesteckt. In einer großen Anzahl von Labors auf der ganzen Welt werden Demenz, Herzkrankheiten, Nierenversagen, Krebs, Diabetes, Osteoporose, Arthritis und so weiter untersucht. Aber nur wenige der Wissenschaftler, die daran arbeiten, betrachten sich als Gerontologen; die meisten sind ausschließlich mit der Krankheit beschäftigt, die sie untersuchen, und nicht mit dem Altern als Ganzem. Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Statt der totalen Spezialisierung sollten die Forschungsprogramme miteinander koordiniert werden, vor allem aber müßte es auf fundamentaler Ebene mehr gerontologische Forschung geben.

Die Gerontologen, welche die Lebensspanne um jeden Preis verlängern wollen, erliegen einem gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Irrtum. Die Hauptprobleme der Alterspflege bestehen in den Wirkungen der vielen destabilisierenden Krankheiten und ihrer Behandlungskosten. Wir müssen das Auftreten dieser Erkrankungen soweit wie möglich verhindern. Das hätte zwei wesentliche Vorteile: Erstens wäre viel weniger Pflege und Versorgung für die alten Menschen nötig. Zweitens, und noch wichtiger, würde dadurch die Lebensqualität der alten Menschen verbessert. Statt durch eine oder mehrere schreckliche Krankheiten gelähmt zu sein, könnten sie viel länger als bisher „natürlich“ altern und ein normales, ausgeglichenes Leben führen, bis sie irgendwann friedlich sterben.

Robin Holliday gehörte fast zwei Jahrzehnte dem Institute of Medical Research in London an. Seit 1988 arbeitet er am Laboratory for Molecular Biology in Sydney.