Seit dem 1. Januar ist das Stasi-Unterlagengesetz in Kraft
: Konfrontation mit der eigenen Biographie

■ Nach dem im Dezember im Bundesrat verabschiedeten Stasi-Aktengesetz kann ab heute jede(r) Deutsche bei der Gauck-Behörde in Berlin...

Konfrontation mit der eigenen Biographie Nach dem im Dezember im Bundesrat verabschiedeten Stasi-Aktengesetz kann ab heute jede(r) Deutsche bei der Gauck-Behörde in Berlin erfahren, ob sie oder er bei der „Firma“ registriert war. 70.000 Anträge im Monat erwartet der Bundesbeauftragte für die Stasi-Akten. Für viele Betroffene wird so die Unsicherheit wohl noch Jahre dauern.

Die Hinterlassenschaft der Staatssicherheit der DDR wird aufgelöst, seit heute sind die Archive des einstigen Spitzelministeriums unter Führung des Armeegenerals Erich Mielke der Öffentlichkeit zugänglich. Mit dem Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wird den Opfern jetzt Einsicht in die über sie angelegten Akten gewährt, und die Betroffenen haben das Recht zu erfahren, wer wann und wie in ihre Biographie eingegriffen hat. 70.000 Anträge im Monat erwartet der Bundesbeauftragte für die Stasi-Akten Jochen Gauck — Anträge, in denen die Betroffenen entweder eine Auskunft, eine Einsicht oder eine Herausgabe von Kopien der Unterlagen einfordern.

Wie so oft steckt auch in dieser Materie der Teufel im Detail. Wie lange es dauern wird, bis die einzelnen die sie betreffenden Unterlagen zu Gesicht bekommen, vermag in diesem Moment keiner genau zu sagen. Sicher ist nur, daß es Monate, wenn nicht sogar Jahre sein können. Mit ihren derzeit 679 fest angestellten und rund 180 von anderen Behörden abgeordneten Mitarbeitern ist die Gauck-Behörde personell hoffnungslos unterbesetzt. Um der erwarteten Antragsflut auch nur einigermaßen Herr zu werden, hat die Behörde errechnet, muß das Personal auf circa 3.500 Mitarbeiter erweitert werden. In einer ersten Ausbauphase sollen in den kommenden Monaten jeweils zwischen 200 und 250 neue Mitarbeiter eingestellt werden.

Hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern ist die Einsicht verwehrt

Zu den personellen Problemen kommen organisatorische hinzu. Nicht alle Außenstellen der Sonderbehörde (überwiegend in den Gebäuden der früheren Bezirksverwaltungen der Stasi) können wie geplant Anfang diesen Jahres ihre Arbeit aufnehmen. Im thüringischen Suhl beispielsweise verzögert sich der Betrieb, weil eine der Zulieferfirmen entgegen der Planung die Sicherheitsverglasung für die neuen Archivräume nicht liefern konnte; in Sachsens Hauptstadt Dresden wurden größere Bürocontainer als vorgesehen angeliefert, so daß auf dem von der sowjetischen Armee geräumten Kasernengelände, auf das sie gestellt wurden, erst einmal ein anderes Gebäude abgerissen werden muß; und in Erfurt kann eine Lagerhalle, die für die Gauck-Behörde vorgesehen war, wegen einer zu hohen Asbestbelastung gar nicht erst bezogen werden.

Sechs Millionen Personen sind in den Karteien des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit erfaßt: Bürger der alten DDR, der Bundesrepublik und Ausländer, die von Mielkes Mitarbeitern ausgespäht wurden. Gespeichert sind allerdings nicht nur die Opfer der Stasi. In den Archiven der Staatssicherheit befinden sich neben Opferakten auch Angaben über die Zuträger des Ministeriums. Überprüft wurde zu Zeiten des Honecker-Staates auch, wer in sicherheitsrelevanten Bereichen tätig war oder wer ins westliche Ausland reisen durfte.

Um die anstehende Antragsflut einigermaßen zu bewältigen, wird Aktenauskunft und -einsicht zunächst vorwiegend denjenigen gewährt, die in der DDR unter der Verfolgung durch die Stasi besonders zu leiden hatten. Bevorzugt werden sollen diejenigen, die wegen ihrer politischen Gesinnung inhaftiert oder zwangsumgesiedelt wurden oder deren berufliche Karrieren von der Stasi massiv beeinflußt wurden.

Besonders berücksichtigt werden auch diejenigen, denen wegen ihres Alters eine lange Wartezeit nicht zugemutet werden kann. Anträge auf Akteneinsicht können grundsätzlich alle Bürger der alten DDR und der alten Bundesrepublik Deutschland stellen — als Opfer der Ausspähung, als nahe Verwandte von verstorbenen Stasi-Opfern, aber auch als ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums. Hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der „Firma“ bleibt der Blick in die von ihnen angelegten Opferakten allerdings verwehrt — mit den Worten des Bundesbeauftragten Jochen Gauck: „Damit sie nicht Herrschaftswissen auffrischen können.“

Jede Akte, die einem Antragsteller zur Einsicht vorgelegt werden soll, muß zuvor anhand von Hinweiskarteien gesucht und vor einer Aushändigung von Mitarbeitern der Gauck-Behörde gegengelesen werden, damit eventuelle Angaben über andere Stasi-Verfolgte, sogenannte schutzwürdige Belange Dritter, unkenntlich gemacht werden können. Die Namen der Stasi-Mitarbeiter bekommen die Antragsteller in ihren Unterlagen allerdings zu sehen. In aller Regel sind dies zwar Decknamen — auf Verlangen ist die Behörde allerdings verpflichtet, den richtigen Namen des Stasi-Informanten zu recherchieren und den Antragstellern mitzuteilen.

Jedem Antragsteller steht die Gegendarstellung in den Unterlagen frei

Die Akteneinsicht und Auskunft sind gebührenfrei. Für Kopien muß allerdings gezahlt werden, was in einigen Fällen, angesichts der Fülle mancher Stasi-Vorgänge, dann doch teuer werden kann. Entsprechende Anträge können auch formlos gestellt werden. Um das Verfahren zu vereinfachen, hat die Stasi-Akten-Behörde ein Formblatt entworfen, das in allen Dienststellen bezogen werden kann. Einzige formale Hürde bei Antragstellung ist ein Identitätsnachweis, der dem Antrag beigefügt werden muß und der etwa bei Polizeidienststellen oder Meldeämtern ausgestellt wird. Um der ohnehin schon überlasteten Behörde die Recherche in den Archiven zu erleichtern, sollten die Antragsteller ihre Wohnsitze seit dem 18. Lebensjahr und, wenn vorhanden, Hinweise auf die sie betreffenden Stasi-Mitarbeiter oder -Abteilungen mit anführen.

In fünf Jahren, wenn der Berg der Anträge abgearbeitet sein wird, können Stasi-Opfer dann auch eine Löschung ihres Namens in den sie betreffenden Stasi-Unterlagen beantragen. Ausgenommen werden aber die Fälle sein, in denen die Akten als Beweismittel für Rehabilitationsverfahren, für Prozesse gegen Stasi- Mitarbeiter oder zur politischen und historischen Aufarbeitung benötigt werden.

Dem vom Bundestag verabschiedeten Gesetz zufolge können Anträge auf Anonymisierung ab dem 1.Januar 1997 gestellt werden. Schon heute steht jedem Antragsteller das Recht zu, eine Gegendarstellung zu den in den Akten beschriebenen Ereignissen zu den Unterlagen vornehmen zu lassen — eine Möglichkeit, von der wohl insbesondere die früheren inoffiziellen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes Gebrauch machen dürften. Wolfgang Gast