: Vorbild Polen?
■ Rußlands Reformökonomen orientieren sich an Balcerowiczs radikalem Wirtschaftsprogramm
„Um deinetwillen wurde diese Geschichte erzählt!“ — die Rede war von der kapitalistischen Entwicklung Englands, der Adressat war Deutschland, Autor der ironischen Anrede: Karl Marx. Kann die kurze, auf den Tag zweijährige Geschichte der radikalen ökonomischen Reform in Polen die gleichen Lehren für Rußland bereithalten wie seinerzeit die englische kapitalistische Dynamik für die unterentwickelten deutschen Verhältnisse? Zumindest Rußlands Reformökonomen glauben an die Übertragbarkeit des polnischen Beispiels. Mit der Freigabe der Preise und dem damit verbundenen Kurs auf die rasche „innere“ Konvertierbarkeit des Rubel wiederholen sie den ersten Schachzug des polnischen ökonomischen Meisterdenkers Balcerowicz.
Gemäß ihrer Prognose soll sich nach einem ersten Inflationsschock das Preisniveau stabilisieren und auf annähernde Gleichgewichtspreise zubewegen. Mittels eines rigiden Austeritätsregimes sollen die Staatsausgaben gekürzt, die Kredite verteuert werden. Über die Geldemission soll die neue Zentralbank wachen. Diese Maßnahmen sollen, wiederum nach polnischem Vorbild, durch eine Privatisierungswelle im Handel, den Dienstleistungen und der kleinen und mittleren Industrieproduktion flankiert werden. Der Satz aus Walesas Neujahrsansprache — „die Schlangen sind verschwunden, die Regale gefüllt, das Geld hat seinen Wert“ — ist die Botschaft für Rußlands Reformequipe.
Aber sind die Hoffnungen der radikalen Reformer in Moskau (und in Kiew) realistisch? Zu den herausragenden und am schwersten begreifbaren Eigenarten der polnischen Entwicklung gehört die immer noch anhaltende Unterstützung des radikalen Kurses in der Bevölkerung — und dies bei einer Arbeitslosenrate von zwölf Prozent. Im Gegensatz zu Rußland hatte sich in Polen der bäuerliche Privatbesitz ebenso erhalten wie Rudimente der privaten Kleinproduktion und des Kleinhandels. Es gab eine „Kultur des Marktes“ und eine Wertschätzung der Privatinitiative, die auch durch das wenig anziehende Gesicht der neuen Mittelklassen nicht zu erschüttern war. Diese Tradition des Marktes fehlt in Rußland, wo schon jetzt das Treiben der Nouveaux Riches mit dem Abscheu des „aggressiven Nichthabens“ verfolgt wird. Diesen wie vielen anderen schlechteren Ausgangsbedingungen steht die Exportkraft Rußlands und der Ukraine gegenüber. Im Unterschied zu Polen beinhalten westliche Investitionen in den Energie- und Rohstoffsektor Rußlands nur ein geringes Risiko. Die Exporterlöse könnten bereits mittelfristig für die Modernisierung der industriellen Struktur eingesetzt werden. Ähnlich wie in Polen lastet auf Rußland und der Ukraine der riesige, unrentabel produzierende Staatssektor. Ihn sterben zu lassen, wäre im Fall Polens gleichbedeutend mit einer weitgehenden Entindustrialisierung des Landes und einem riesigen Arbeitslosenheer. Ihn leben zu lassen, würde genau die Subventionen erfordern, die um der Stabilität willen vermieden werden müssen. Balcerowicz hat dieses Problem nur vor sich hergeschoben. In Rußland wäre es prinzipiell lösbar — allerdings nur dann, wenn ein sozialer Konsens gefunden wird. Gerade aber hier wird die größte Schwierigkeit der neuen Machteliten liegen. Christian Semler
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