Über zwei Jahre zu Unrecht im Knast

■ Bundesgerichtshof hob Bremer Urteil gegen kolumbianischen Touristen nach zwei Jahren auf

Mit einem für das Bremer Landgericht selten blamablen Beschluß hat der Bundesgerichtshof kurz vor Weihnachten das Urteil gegen den Kolumbianer Marino T.-L. aufgehoben. Gestern öffnete sich daraufhin die Tür des Oslebshauser Knastes für den 48jährigen Landwirt, der im Mai 1989 eigentlich als Tourist nach Europa gekommen war, um „ein graues Haar in die Luft zu werfen“ und die „berühmte Berliner Mauer“ zu besichtigen, wie er vor Gericht ausgesagt hatte. Doch während die Mauer inzwischen geöffnet und abgerissen wurde, mußte Marino T.-L. gerade das dritte Weihnachten hinter Bremer Gittern verbringen — völlig zu Unrecht, wie der BGH den Bremer Richtern jetzt bescheinigte.

Nach einem über 50 Verhandlungstage dauernden Prozeß war T.-L. am 16. April vergangenen Jahres nach eineinhalbjähriger Untersuchungshaft zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, weil er angeblich der Hintermann des Schmuggels von zwei Kilo Kokain gewesen sein soll, bei dem der Peruaner Daniel G.-N. im September 1989 auf frischer Tat im Bremer Freihafen verhaftet worden war. Das gesamte Urteil gegen den Kolumbianer stützte sich lediglich auf die belastende Aussage dieses mitangeklagten Peruaners. Der hatte sich in seinen Aussagen zwar immer wieder in haarsträubende Widersprüche verwickelt, trotzdem glaubten die Richter der 4. Hilfsstrafkammer des Bremer Landgerichts bis zuletzt an ihren Kronzeugen.

Zu Unrecht, wie der BGH jetzt auf Antrag von T.-L.s Verteidiger, dem Bremer Anwalt Stefan Barton, feststellte. „Wenn ein Angeklagter allein oder überwiegend durch die Angaben eines Mitangeklagten belastet wird, bedarf es einer sorgfältigen Prüfung der Umstände, die Zweifel an der Zuverlässigkeit dieser belastenden Beweismittel wecken können“, schrieben die Bundesrichter ihren Bremer Kollegen ins Stammbuch, „dem ist das Landgericht nicht gerecht geworden.“

Die Bremer Richter hatten nämlich als wahr unterstellt, daß G.-N. und T.-L. in der Nacht vor dem Kokainschmuggel den Übergabeort im Bremer Freihafen per Taxi aufgesucht hätten. Und das, obwohl G.-N. über den Zeitpunkt dieser Fahrt unterschiedliche Aussagen gemacht hatte und eine Befragung aller Bremer Taxiunternehmen ohne Ergebnis geblieben war. Angesichts solcher Widersprüche hätte das Bremer Gericht dem Kronzeugen G.-N. nicht glauben dürfen, stellte der BGH nun fest.

Auch mit seiner Freilassung ist die Odyssee des kolumbianischen Touristen durch die deutsche Justiz jetzt noch nicht zu Ende. Denn die Außervollzugsetzung des Haftbefehls bedeutet noch lange keinen Freispruch. Und ohne den ist eine zumindest finanzielle Entschädigung für die Folgen der zwei Jahre und vier Monate dauernden Haft nicht möglich. Die hat nicht nur T.-L.s Gesundheit ruiniert, sondern auch seine kolumbianische Finca in eine schwere Krise gestürzt.

Zwar läßt der BGH-Beschluß angesichts der Beweislage des ersten Verfahrens nur noch einen Freispruch zu. Doch der inzwischen zuständige Landgerichtspräsident Berndt-Adolf Crome möchte die für Bremen äußerst peinliche Sache lieber erstmal auf die lange Bank schieben. „Bis zu einer neuen Hauptverhandlung wird es mindestens ein halbes Jahr dauern“, sagte er gestern gegenüber der taz. Schließlich müßten zunächst erstmal alle Zeugen neu geladen werden — einschließlich des ehemaligen Kronzeugen G.-N.

Doch der wird wohl kaum wieder in Bremen auftauchen, denn auf Antrag der Staatsanwaltschaft war er noch vor Ablauf der Hälfte seiner vierjährigen Haftstrafe Anfang August 1991 aus der Haft entlassen und nach Belgien abgeschoben worden. „Aber trotzdem müssen wir doch versuchen, den wichtigen Zeugen zu laden“, meint Richter Crome, und das werde eben dauern. Falls T.-L. bis dahin wieder nach Kolumbien zurückgekehrt sein sollte, werde man ihm eben „auf Gerichtskosten ein Flugticket verschaffen“, damit er die Chance hat, „in Bremen weiter um ein gerechtes Urteil zu kämpfen“.

Gegen eine solche Verschleppungstaktik, der auch die durch den BGH-Beschluß gleichfalls blamierte Staatsanwaltschaft zustimmen will, wird T.-L.s Anwalt Barton Beschwerde vor dem Oberlandesgericht einlegen. Er verlangt eine sofortige Neuverhandlung des Falles, „damit mein Mandant nach über zwei Jahren zumindest als freier Mann wieder nach Hause zurückfahren kann.“ Dirk Asendorpf