Das Auge des Bauchnabels

■ Intensive Hautgeschichten von Josef Felix Müller in der daadgalerie

Bilder erzählen nur Geschichten, die der Betrachter schon kennt. Zu den einzelnen Bildern von Josef Felix Müller gibt es keine Geschichten; es gibt sie jedoch zu deren Ausstellung in der daadgalerie. Einzeln, paarweise, als Tryptichen oder zu Serien zusammengefaßt, sind diese Bilder von Häuten, Körpern, Fleisch und Gesichtern — fragmentiert, verkleinert, vergrößert, abgezogen und aufgespannt — insgesamt Teile einer Inszenierung.

Die Inszenierung beginnt im Eingangsraum mit hoch über den Köpfen hängenden, hölzernen Körpern: vor der Bild-Beschauung Keulen, am Ausgang des Rundgangs erigierte männliche Geschlechtsteile aus der Froschperspektive — der Katalogtitel ist Tränen.

Die Ausstellung gewährt Einblick in die Arbeit eines Jahres, die durch ein Stipendium möglich wurde.

Eine vom Betrachter beizusteuernde Geschichte ist die von einer Malerei, die, statt Geschichten zu erzählen, ihre Illusionsmächtigkeit vorführt. Schon in der Frühzeit der fixen Idee, mit Farben auf der Leinwand illusionäre Wirklichkeit zu schaffen, stand die Fähigkeit, Inkarnat darzustellen, hoch im Kurs. Ausschließlich um die Darstellung von Haut und Fleisch geht es auch J.F. Müller: das sogenannte Inkarnat hat sich hier allerdings — bildlich — von ehedem im Mittelpunkt stehenden Menschen abgelöst. An dessen Stelle steht das Auge eines Bauchnabels.

J.F. Müller bedient sich der früh schon verbreiteten Erkenntnis, daß die Darstellung menschlicher Haut durch die Eigenwirkung der Materialität von Farbe zu intensivieren ist. Die so erzeugte Illusion bleibt jedoch Mittel. Haut entsteht durch Farbe auf einer Leinwand, die so geschnitten ist, daß die Leinwand deutlich sichtbar über den Rahmen gespannt erscheint. Statt straff über den Rahmen gezogen zu sein, wölbtsich der Rand der seitlich am Keilrahmen festgetackerten Leinwand auf. Illusionäre Haut und Häute werden mit der Wirklichkeit des Farbauftrags und der Leinwand austauschbar. Leinwand und Farbe sind die Haut selbst, die Illusion von Haut bloße Zutat.

Indirekt wird die Konvergenz von Illusion und der sie erzeugenden Bildmittel durch eine weitere Episode aus der Geschichte der illusionären Bemühungen um Naturähnlichkeit bestätigt. Heftiger Farbauftrag steigert den Eindruck lebenden Fleisches — vorausgesetzt, das betrachtende Auge hält sich in gemessenem Abstand. Im Verzicht auf diesen Effekt und das Surplus an Virtuosität sind die Farben auf Müllers Bildern glatt verrieben. Der Maler hält sich auf Distanz, statt diese zu fordern. Anstelle von Augenlust am Farbauftrag wird Hautkontakt mit den Bildern sichtbar.

Der Extremfall, daß der gemalte Körper so nah an den Bildvordergrund tritt, daß die Haut zur Leinwand wird, ruft eine weitere Geschichte auf. Ein früher Meister der Haut-Illusionsmalerei erzählt: das »schinden des Marsias (»Skin-den« = Häuten), in einem Bild dargestellt, dessen mathematisch exakte Mitte einen Nabel zeigt — den Nabel eines über Kopf an einem Baum aufgehängten Satyrs, der Apoll im musikalischen Wettstreit unterlegen ist.

Mit der Aufhängung des Körpers wird die Profession des Schlachters gegen jede andere mögliche körperliche Sensation gesetzt.

Dieser Akt — dessen Grausamkeit nicht näher als mit der Erinnerung zu beschreiben ist, daß vor einem halben Jahrhundert in Deutschland aus Menschenhäuten Lampenschirme gefertigt wurden — beansprucht, als Reinigung verstanden zu werden.

Abendländischer Kultur gilt diese Häutung als Effekt des Sieges »wahrer« Kunst über schiere Sinnlichkeit. Eine Tradition, die sich trotz Auschwitz und gegen das erwähnte Bild Tizians weiter behauptet.

J.F. Müllers Bilder stellen eine sinnliche Herausforderung an solche bereinigten Kunstvorstellungen dar. Haut erweist sich als nicht bloß repräsentierbar — »Haut ist kein Thema, sondern ein behaartes Organ« —, verletzlich, empfindlich und sprechend. Herausforderung sind Müllers Bilder obendrein gegenüber dem, was gegenwärtig auf dem Kunstmarkt Beachtung findet. Trotz des geradezu abwegigen Interesses an einer naturalistischen Malerei erscheint der in die Bilder investierte Arbeitsaufwand plausibel. Eine sich verändernde Sinnlichkeit wird erkenbar, indem die Differenz etwa einer fotografierten Haut zu der mit den streichenden Bewegungen des Pinsels geschaffenen farbigen Haut beziehungsweise bearbeiteten Haut der Leinwand signifikant wird. Ullmann-M. Hakert

J.F. Müllers Hautgeschichten sind noch bis 15. Januar in der daadgalerie in Berlin zu sehen.