Europäische Behörden 174 mal „schuldig“

Straßburg (taz/afp) — 174 mal fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 1991 das Urteil „schuldig“. Die Verurteilten sind samt und sonders Mitgliedsländer des Europarats. Die Liste ist 16 Länder lang — sie reicht von Italien (ganz oben) über Großbritannien und die Bundesrepublik bis hin zu Österreich. Sie alle haben nach der höchstinstanzlichen Interpretation gegen das Menschenrecht verstoßen. Die meisten Verurteilungen kamen wegen überlanger Haftstrafen, verschleppter und unfairer Gerichtsverfahren und der Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung zustande.

Insgesamt mußten die 22 Straßburger RichterInnen — je eineR pro Unterzeichnerland der Europäischen Menschenrechtskonvention — im vergangenen Jahr über 230 Fälle urteilen. Jedesmal hatten BürgerInnen auf dem Wege der Individualbeschwerde gegen Behörden wegen Amtsanmaßung und Verletzung der Menschenrechte geklagt.

Die tatsächliche Zahl der Beschwerden in Straßburg lag jedoch noch um ein Vielfaches höher: 1648 „Vorgänge“ gelangten im vergangenen Jahr auf die Schreibtische der Menschenrechtskommission beim Europarat. Die weitaus meisten von ihnen (400) richteten sich nach einer gestern veröffentlichten Statistik gegen Frankreich. An zweiter Stelle lag Großbritannien mit 202 Beschwerden, gefolgt von Deutschland (139), Österreich (135), Italien und der Schweiz (113). Das Gros betraf, wie auch in den Vorjahren, zu lange oder unfaire Gerichtsverfahren, erläuterte der Vorsitzende der Menschenrechtskommission, Hans-Christian Krüger. Aus den neuen Bundesländern trafen bisher nur „vereinzelt“ Beschwerden ein. Sie stammten fast ausschließlich von BürgerInnen, die vom ehemaligen DDR-Regime enteignet wurden und ihr Eigentum zurückhaben wollen.

Die Kommission filtert sämtliche Klagen. Sie prüft die Eingaben auf ihre Zulässigkeit, bevor dann ein Bruchteil an den Gerichtshof weitergereicht wird — im vergangenen Jahr waren das 217, gegenüber 151 im Jahr zuvor. Wird eine Klage für zulässig befunden, sucht die Kommission zunächst nach einer gütlichen Regelung. Erst wenn das nicht möglich ist, wird ein Verfahren vor dem Gerichtshof erwogen.

Um eine Angelegenheit überhaupt vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen, müssen sämtliche nationalen Rechtswege voll ausgeschöpft sein. Für Folteropfer in der Türkei, die die Menschenrechtskonvention ebenfalls unterzeichnet hat, bedeutet das zum Beispiel, daß sie erst sämtliche Instanzen ihres Heimatlandes durchlaufen haben müssen — ein rein hypothetischer Fall, wie die Straßburger Praxis beweist, in der die Türkei noch nicht verurteilt wurde.

Neben rechtlichen Erwägungen spielt auch das internationale politische Klima eine wichtige Rolle in der Straßburger Justiz. Denn bevor ein Fall vor die RichterInnen kommt, muß das Ministerkomitee aus allen Mitgliedsländern zustimmen. Daneben gibt es für alle Mitgliedsländer noch die Möglichkeit, im Falle eines „öffentlichen Notstandes“ Menschenrechte außer Kraft zu setzen. Eine Ausweichmöglichkeit, von der unter anderem die Türkei in Kurdistan Gebrauch macht.

Eine Geduldsprobe ist eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof in jedem Fall. Selbst wer es bis Straßburg geschafft hat, muß noch mit einer Bearbeitungszeit von rund vier Jahren rechnen. Die Zahl der Mitarbeiter der Menschenrechtskommission ist trotz ständig neuer Mitgliedsländer aus Mittel- und Osteuropa seit Jahren konstant geblieben. dora