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SOMNAMBOULEVARD — IM WINKEL VON 90o Von Micky Remann

Der ganze Somnamboulevard war neulich nachts auf den Beinen, um die in immenser Zahl eingehenden Live-Träume der taz- LeserInnen in Empfang zu nehmen. Die Decodierung in unseren Klartraum klappte prima, und bei der wirklich famos hohen Wahlbeteiligung fiel die Zahl der ungültigen, boykottierten oder Nicht-Wählerträume überraschend gering aus. Am Titel der heutigen Lieferung erkennst Du bereits den Sieger der ersten traumokratischen Wahl dieses Jahrhunderts, und so wissen wir nun, daß — Applaus! — das Axiom „Träumen ist Leben im Winkel von 90o“ mit 52 Prozent der Stimmen gewonnen hat (vor „Sex auf dem Somnamboulevard“). Was aber bedeutet uns das?

Jetzt im Moment zum Beispiel belausche ich ein Traumgespräch — Du wirst bald durchschauen warum — das hinter den Kulissen unserer somnambulen Wahlsiegerfeier geführt wird, die auf einem Tanzschiff stattfindet. Der Versammlungsleiter ist gerade an den Saalordner mit der Aufforderung herangetreten, er möge sich beim Denkmalschutz für die Bereitstellung einer Pontonbrücke einsetzen. „Kriegste doch jetzt nirgends eine her!“, sagt der Ordner.

„Mußte eben ne Kriegsanleihe aufnehmen“, rät der Leiter „und denk stets daran: Es ist nicht wichtig, was wir sagen, sondern was sich die TräumerInnen beim Lesen dabei denken.“ „Ich, ausgerechnet ich“, mault der andere, „aber sag mal, wofür ist eine Pontonbrücke eigentlich gut?“ „Na, damit zwei Ufer miteinander verbunden werden und es dem Verkehr ermöglicht wird, darüber wegzufließen“, antwortet der Versammlungsleiter. „Weg worüber? Was ist mit dem Raum zwischen den Ufern?“ „Da fließt der Fluß, mit all seinen Wassern.“ „Aha, und was noch?“ „Der Schiffsverkehr. Allerdings im Winkel von 90o zur Brückenführung.“

„Sehr gut, und was sollen die Schiffe machen, die an die von dir geforderte Pontonbrücke kommen? Um 90o drehen und ans Ufer rasseln? Wisse, mein Freund und Versammlungsleiter, daß nicht nur zählt, was über die Brücke fließt, sondern auch, was unter ihr durchfließt, im Winkel von 90o.“ „Was geht mich das an“, achselzuckt der andere. „Du redest ja“, empört sich der Saalordner, „wie ein frustrierter Wachzustandschauvinist, der den Somnamboulevard immer nur im Winkel von 90o schneiden und blindlings überqueren will, der vom Ufer des Einschlafens zum Ufer des Aufwachens hechelt, ohne je den Traumfluß dazwischen zu würdigen oder sich wenigstens den Traumfuß darin zu benetzen, und der, da es ihm nicht gelingt, uns mit seinem Unverstand des Faktes nervt, daß hier ein eigener Lebensvektor fließt, komplett mit Tidenhub, Traumokratie und Verkehr, ein normal luzides Leben, nur eben im Winkel von 90o zum Wachzustand, so wie sich ein Tor zu den Sternen im Winkel von 90o zur Erde öffnet.“

Zornesrot hauen sie sich da gegenseitig auf die Backen, verwandeln sich in Enten, die ihr Geschnatter im Winkel von 90o über sich werfen und dann somnambul davonfliegen.

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