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Gespenstische Liebschaften

■ Emmanuel Berls „Geisterbeschwörung“

Emmanuel Berl können wir uns vorstellen wie Stendhal in der Ausgangsszene zu seinem Leben des Henry Brulard: Hoch über dem Albaner See sitzend, sein Leben bedenkend und die Anfangsbuchstaben seiner geliebten Frauen in den Sand zeichnend. Aus ihren Namen setzt sich die Textur zusammen, die Stendhals Leben bezeichnete.

Berls Lebenserinnerungen am Band der Frauen, die er geliebt hat, finden gute hundert Jahre später statt. Gott ist tot, die Helden erschüttert, und die Textur seiner Lieben hat geisterhafte Konsistenz angenommen. Noch etwas hat Berl mit Stendhal gemeinsam: Auch er ist ein ewiger Sohn, der die Bindung an das, was ihm versagt bleibt, beschreibt, auch er bleibt ein Leben lang an seine früh verstorbene Mutter gebunden.

Berl, ein in Frankreich wohlbekannter Dichter, wurde 1892 in Paris geboren, wo er 1972 auch starb. Der 83.Band der „Anderen Bibliothek“ mit dem TitelGeisterbeschwörung umfaßt zwei Bücher aus seiner Feder: Rachel und andere Gnaden, das 1965 in Frankreich veröffentlicht wurde, und das ältere Werk, Sylvia, 1952 erschienen.

Sylvia ist die Geschichte einer Liebe, die Kindheit und Alter in einem Maß erfaßt, das nichts anderes auslotet als die Diskrepanz zwischen Leben und Ich. „Mein Leben ist gar nicht wie mein Leben. Es hat ihm nie geglichen.“

So beginnt Sylvia. Die darauffolgende Schilderung der Kindheit mit dem Tod des Bruders, des Vaters, dem Tod des Onkels und des Cousins, gibt dem Ich der Erzählung die feste Überzeugung, daß es sein Leben auf Kosten anderer Leben lebt. Der Tod der Mutter bindet den jungen Ich-Erzähler für immer an sie. Er muß erfahren, daß, je mehr er sich gegen ihre Gebote wehrt — die Arbeit zu lieben und den Tod —, er ihnen nur um so stärker angehört. Wie diese unentrinnbare Gegen-Bindung aussieht, schildert die Beziehung zu Sylvia, der Frau, die seine Mutterbeziehung auf direkte Weise wiederbelebt und es ihm und ihr gleichermaßen unmöglich macht, tatsächlich aufeinander zuzugehen. Immer wieder in den verschiedensten Lebenssituationen begegnen sie sich, die gleiche Nähe und Ausschließlichkeit verbindet und trennt sie. Nur die Heftigkeit, die Resignation verändert sich. Sylvia endet mit der klar sichtbar werdenden Linie, die der Autor dem fremd gelebten Leben eines anderen als dem Ich nach- und einzuzeichnen vermochte. Sie zeigt den Tod der Männer in der Familie, die Ausgeliefertheit gegenüber der Mutter, die Anziehung, die sich auf Sylvia überträgt und die Gewißheit (es ist eine Gewißheit ohne Glauben), daß es einen Gott gibt, der sich verbirgt, der nicht erfaßt werden will und dessen schmerzhaft erlebte Abwesenheit ihn um so mehr preist. Das Leben in Berls Sicht ist eine religiöse Lehre mit Gott als dem herrschenden Gespenst über die Einnerungsgespenster.

Rachel und andere Gnaden behält diese Perspektive bei, verschiebt bzw. erweitert sie noch um den Gedanken der Gnade. Als Gnade bezeichnet Berl den gewährten Ausblick, den die Liebe zu einer Frau, die Begegnung mit ihr plötzlich öffnet; eine gewisse und doch nicht begreifbare andere Gegenwart scheint auf. Der Begriff der Gnade weist auf die gleiche Spur durch ein unbestimmbar fremdes Leben wie Sylvia. Der engen Verbindung von Gott, Kunst, Mutter und Schuld entkommt das Ich durch die Frauen, seine Grazien, durch die es sich als ein anderes erleben konnte. Acht Frauen, acht mögliche Leben entdeckt uns Berl so eindringlich, daß man manchmal nicht mehr weiß, wer da spricht von den Frauen.

Anlaß für dieses Buch war das Andenken an eine Frau, die er selbst nicht gekannt hat, Renée Hamon, genannt „der kleine Korsar“, eine Freundin Colettes, deren Leben ein Werk war, aber keine Kunst werden konnte, denn ihr fehlte der äußere Blick, der es auf einer anderen Ebene beschwörend wieder zusammengesetzt hätte. Ebenso kann es dem Künstler ergehen, der sein wichtigstes Werk nicht zu schaffen vermag, weil ihm der Mensch, der es ihm hätte verdeutlichen können, nicht begegnet ist, der also keine Gnade fand.

Sylvia, das sich labyrinthisch ausbreitende Erinnerungswerk eines alten Dichters, steht leider nicht am Anfang der zweiteiligen Geisterbeschwörung, wo es hingehörte. Denn erst hier wird deutlich, von wo und warum sich die Stimme des Erzählers an die Frauen seiner Erinnerung schmiegt, sie umgarnt, bestrickt und zum Geistern verführt. Rachel und andere Gnaden ist Berls eigentliches Alterswerk, abgeklärter, kühler. Ohne Sylvia gelesen zu haben, erscheint sein Bemühen jedoch nicht recht einzuordnen, das zwischen rechtfertigender Eitelkeit pendelt und dem Versuch, den erfahrenen Vergeblichkeiten zumindest ihre bitter-wütende Systematisierung entgegenzusetzen.

Durch seine einführende Position setzt Berls Alterswerk den Leser auf eine falsche Fährte. Man läuft Gefahr, das Programmatische der Abhandlung über die sich darin leise und genau ausbreitende Weisheit siegen zu lassen, die Schilderung der Frauentypen über die Linienführung der grundlegenden Erörterung der Gnade. Dann setzt sich der pseudomythische Klang der „Gnade“ über den tastenden Versuch, ein Wort zu finden für eine Unmittelbarkeit des Lebens, die sich außerhalb der Kategorie von Freiheit und Willen, aber auch nicht mit dem traditionellen Begriff göttlicher Gnade fassen läßt.

In Sylvia berichtet Berl über seine Treffen mit Proust und seinen Streit mit ihm über dessen Warnungen und Taktiken angesichts des Romans. Mit Proust hat er die Methode der Recherche gemeinsam, die überlegene Soziologie der Fiktion, die Geste des sich ganz der Vergeblichkeit Anschmiegens, demütig und listig zugleich. Zwischen dem Unvereinbaren behauptet er einen Ausgleich, der nicht Gerechtigkeit bedeutet, aber in Einheiten, trotz allem gültigen Zusammenhängen liegt: „Alles am Tod ist zweideutig.“

Berls Lieben und die ihnen gehörenden Erinnerungen sind geisterhaft. Zum Beschwören aber gehört es, sich heimsuchen zu lassen. Denn man beschwört keine Geister, wenn man sich nicht von gleicher Natur mit ihnen weiß. Die Liebe und die Furcht, das Verlorene und die unerfüllbare Schuld, das sind die Hauptakteure in Berls Geisterbeschwörung. Friedrike Kretzen

Emmanuel Berl: Geisterbeschwörung . Aus dem Französischen von Dora Winkler. Eichborn-Verlag (Andere Bibliothek), 340 Seiten, 44DM

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