: „Das Wahltempo reicht nicht aus“
Bei der Zeugenvernehmung läuft der Dresdener Wahlfälschungsprozeß „zweisprachig“ ■ Aus Dresden Detlef Krell
Wie macht man das nun, „die politische Verantwortung wahrnehmen“, am Wahltag um halb drei? Singegruppen ausschwärmen lassen, den verstockten NichtwählerInnen auf die Beine helfen? Oder vom Balkon des Parteibüros herab schnell noch einige Erfolge proklamieren? Eines jedenfalls ist am Nachmittag des 7.Mai 1989 im Unterschied zu den früheren Kommunalwahlen nicht mehr „eingeleitet“ worden, ein Feuerwehreinsatz des ehrenamtlichen Agitatorenstabes. Aber die Partei betrieb bis zum Exzeß eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Sie beriet sich, selbstverständlich nur im engsten Kreise.
Zu Beginn des dritten Verhandlungstages im Wahlfälschungsprozeß gegen den ehemaligen Dresdener OB Berghofer und den 1.Stadtsekretär der SED, Moke, sagte einer jener Parteifunktionäre als Zeuge aus, die den SED-Wahlerfolg vor Ort „politisch organisieren“ mußten. Günther Sobe war 1.Sekretär der SED-Stadtbezirksleitung Dresden-Süd. Bis das Gericht die Ausführungen Sobes interpretieren konnte, gab es nicht nur akustische Verständigungsprobleme. Da war von einer „klaren Aufgabenstellung“ bei der Beratung des 1.Bezirkssekretärs Modrow mit den 1.Sekretären der Kreise, aber auch von einer „politischen Zielsetzung“ die Rede, und die Parteifunktionäre trugen auf ihren Ebenen „die politische Verantwortung“. Irgendwann an diesem Sonntag habe die Stadtzentrale gemahnt: „Das Wahltempo reicht nicht aus.“ Darauf mußten sich Partei und Regierung des Stadtbezirkes überlegen, wie sie die BürgerInnen dazu bewegen könnten, ihrer, wie Sobe sie unerschütterlich nannte, „Wahlpflicht“ nachzukommen.
In jedem Falle Pflicht waren für den Stadtbezirksbürgermeister und den Stadtbezirksparteisekretär die Lageeinschätzungen und Beratungen unmittelbar vor dem Wahltag. Am 5.Mai trafen sich beide bei Moke und Berghofer. Dort habe Sobe noch die Vermutung geäußert, es könnte zu einem „acht bis zehn Prozent schlechteren Ergebnis“ als bei den vorangegangenen Kommunalwahlen kommen.
Sobe erinnerte sich auch, die leitenden Genossen in unglücklicher Verfassung erlebt zu haben, als diese ihm klarmachten, daß „im Sinne der Aufgabenstellung die politische Arbeit zu organisieren“ sei. Das Treffen dauerte 15 Minuten und wurde wohl in dieser Form mit den Spitzenfunktionären aller fünf Stadtbezirke geführt. Welcher Beschluß jener allmächtigen „Aufgabenstellung“ zugrundelag, daran konnte sich der Zeuge nicht mehr erinnern. Vielleicht weiß Politbüro- Mitglied Dohlus noch Bescheid, dessen Pamphlet zur Wahl damals alle Zeitungen aufblähte, nachdem der „Gemeinsame Wahlaufruf“ der Nationalen Front erschienen war. Dohlus hat neben Krenz in der nächsten Woche Gelegenheit, sich zu erinnern.
Ein Detail aus den Antworten des Zeugen Sobe wird bei der weiteren Befragung Dresdener Zeugen noch zu erhellen sein. Am Wahlnachmittag wurde er nochmals zu einer „Einschätzung“ in die SED-Stadtleitung bestellt und mit einer „Aufgabenstellung“ versehen. Auf die entgeisterte Frage des Berghofer-Verteidigers Schily, was es denn zu dieser Zeit einzuschätzen gegeben habe, antwortete Sobe ebenso verständnislos. Wenn sich zeige, daß die politische Arbeit nicht ausgereicht habe, müsse doch etwas unternommen werden.
Ob jene „neue Aufgabenstellung“ wiederum als Synomym für manipulierte Zahlen stand oder ob die SED-Oberen lediglich ihr unverdauliches Propagandagestrüpp weiterreichten, konnte diese Zeugenbefragung nicht klären. Sobe nahm sein Zeugnisverweigerungsrecht wahr. Er habe zu dieser Zeit nur die Wahlbeteiligung einschätzen können, und, so das damalige Verständnis der führenden Partei, schon die Beteiligung an der Wahl war ein Bekenntnis, für den Stadtbezirk, den Staat, die Partei, je nachdem. Warum sich der Zeuge bei der Beratung am Vorabend der Wahlen erklärtermaßen nicht für die ersten heißen Zahlen, nämlich die aus den eben geschlossenen Sonderwahllokalen interessiert hatte, blieb dem Gericht besonders rätselhaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen