Inszenierung von Negativität

Vom Erhabenen zur Erschütterung: Bernhard Lypps kunst-philosophische Studien zur Intensivierung des Daseins  ■ Von Ludger Heidbrink

Von der Allgegenwart des Ästhetischen muß wohl kaum gesprochen werden. Schon eher wäre von den Schwierigkeiten zu reden, die ästhetische Theorien mit ihrem Gegenstand, der Kunst, haben. Es ist das Schicksal der meisten Kunsttheorien, daß sie dem Phänomen Kunst nicht gerecht werden. Entweder neigen sie zur Überbewertung des Ästhetischen, das zu einer Dimension der Erlösung von der profanen Wirklichkeit stilisiert wird, oder sie unterschätzen die Besonderheit der Kunst, indem diese zur Erscheinungsform einer „anderen“ Vernunft instrumentalisiert wird.

Die Aufsätze von Bernhard Lypp handeln von dieser Besonderheit der Kunst, ohne in das eine oder andere Extrem zu verfallen. Es gelingt Lypp, die Kunst als Gegenstand einer philosophischen Betrachtung zu nehmen, ohne ihr zu nahe zu treten, aber auch ohne sie der Willkür eines Nachdenkens auszusetzen, das in der Kunst nur sich selbst entdeckt. In den Studien über Kant und Hegel, Hölderlin und Nietzsche, Heidegger und Adorno, die der Band vereinigt, erreicht Lypp eine Ortsbestimmung ästhetischer Erfahrung, die zwischen allen gängigen Positionen zum Stehen kommt. Indem Lypp die Extreme miteinander zu vermitteln sucht, bezieht er selbst einen extremen Standpunkt, der von jeder Glorifizierung des Kunstphänomens genauso weit entfernt ist wie von dessen Vergewaltigung.

Im Zentrum der Aufsätze steht die alte Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Leben. Lypp betrachtet dieses Problem unter zwei durchaus gegensätzlichen Aspekten. Das Charakteristikum der modernen Kunst besteht einerseits darin, von der Alltagswelt zu entlasten. Die Entlastungsfunktion der Kunst ist zuerst und nachdrücklich von Hegel erfaßt worden, der mit seiner Behauptung vom „Ende der Kunst“ auf paradoxe Weise die Notwendigkeit des Ästhetischen bestimmt hat. Diese Notwendigkeit liegt in dem verklärenden Glanz, mit dem die Kunst die Welt überzieht, die mit dem Übergang in die abstrakte Moderne dem Einzelnen als Fremde gegenübersteht. Indem die Kunst die entzweite Wirklichkeit verklärt, trägt sie zu einer Humanisierung der Welt bei, die als „Ent-fremdung“ wirksam wird. Die Entlastung von der Sinnfremde der modernen Welt bedeutet jedoch nicht die Aufhebung der Wirklichkeit im Schein der Kunst, sondern vielmehr deren Steigerung durch das Pathos der Gestaltung, mit dem die Kunst sich als Wahrheit des Lebens selbst entfaltet.

Durch diese originelle Wendung seiner Hegel-Deutung entgeht Lypp der Gefahr, in das Fahrwasser einer Kompensationstheorie des Ästhetischen zu geraten, die in der Kunst allein das Mittel eines Ausgleichs der mit der Entzweiung der Moderne eingetretenen Orientierungsverluste sieht. Statt dessen erkennt Lypp in der Entlastung der Kunst von der entfremdeten Wirklichkeit die Möglichkeit einer Erschütterung unserer Wirklichkeitserfahrung, die über die bloße Verklärung der Welt hinausgeht. Ästhetische Erfahrung bedeutet nicht „Ersatzverzauberung“ (O.Marquard) unserer profanen Welt, sondern Triumph über das Leben durch dessen Inszenierung in einer Kunst, die ihren eigenen Gesetzen gehorcht und zugleich auf eine Umdeutung des Lebens bezogen ist.

Diese Eigengesetzlichkeit der Kunst, die nicht mehr das Leben nachahmt, sondern zu seiner Erschütterung durch souveräne Formen der Inszenierung führt, geht auf Nietzsches Ästhetik des Rausches und der Bändigung zurück. Lypp greift Nietzsches Programm einer ästhetischen Therapeutik der Existenz auf, er bleibt jedoch nicht bei einem neuerlichen Entwurf der „Lebenssorge“ (Foucault) stehen, sondern sieht das zentrale Phänomen der Kunst darin, daß sie in der Entzweiung von der Welt zu einer „Intensivierung“ des Daseins gelangt. In den symbolischen Formen der Kunstwerke spiegeln sich Möglichkeiten des Lebens wieder, die in ihrem experimentellen und stimulierenden Charakter neuartige Perspektiven der Existenz eröffnen. An der Oberfläche der Kunst entzündet sich eine Tiefe des Blicks, aus dem die „Erschütterung des Alltäglichen“ hervorgeht — als Selbstheilung und Selbstverwandlung des Daseins.

Die Verwandlung des Lebens in der ästhetischen Erschütterung bleibt bei Lypp allerdings frei von jeder moralischen oder kritischen Wertung. Indem die Kunst Imaginationen des möglichen Daseins liefert, verweigert sie sich einer positiven Deutung, ja der Ausdeutbarkeit überhaupt. Der Rätselcharakter der Kunst liegt freilich nicht in der erhabenen Negation möglicher Sinnhaftigkeit, er besteht vielmehr darin, daß in ihr eine Fremdartigkeit der Welt zum Ausdruck kommt, die ohne einen Abschluß ist. Es ist dieser „Gang in die Fremdheit“, der die Kunst zu einem Ereignis macht, in dessen Vollzug keine Erneuerung unseres Weltverständnisses entsteht, sondern das Drama einer radikalen Subversion möglicher Welt- und Selbstdeutungen.

Lypp lehnt die aktuellen Ästhetiken des Erhabenen ab, in denen die Auflösung des Verstehens nicht entschieden genug vollzogen wird. Er wendet sich gegen die Bestimmung der Kunst als Darstellung des Undarstellbaren, die letztlich auf den gleichen metaphysischen Prämissen beruht wie die idealistische Ästhetik des Schönen, nur unter negativem Vorzeichen. Kunst bedeutet statt dessen eine „Inszenierung von Negativität“, die auf der Grundlage von „Formation und Dekonstruktion“ entsteht. Die Kunst sprengt nicht nur die Grenze zur Welt, sie implodiert unter der Last der Leidenschaft, aus der sie entstanden ist, und feiert darin zugleich den Triumph über das Leben, das sie verloren hat. Ihr Sinn besteht nicht nur darin, das Dasein in den „Schmerz der Verzweiflung“ zu treiben; die Aufgabe der Kunst ist es auch, diese Verzweiflung zu überwinden, und zwar nicht in der bloßen Negation, sondern in der befreienden Intensivierung des Lebens. [Dem Leser vielleicht als kleine Verschnaufpause ein Neujahrs-haiku von Kobayashi Issa: „Man gratuliere mir!/ Auch dieses Jahr/ haben die Mücken mich gebissen“, d.S.]

In gleicher Weise kritisiert Lypp die gängige Behauptung vom posthistorischen Zeitalter, in das die Kunst heute eingetreten und worin sie angeblich zu einer „Endgültigkeit des Positiven“ verdammt sei, das keine Möglichkeiten der Veränderung mehr zulasse. Genauso wie Heideggers Attitüde der „Gelassenheit“ die bloße Umkehrung des apokalyptischen Heroismus der Moderne bildet, setzt die posthistorische These der ästhetischen Beliebigkeit nur Hegels Rede vom Ende der Kunst fort, ohne ihr wesentlich Neues hinzuzufügen. Die Kunst läßt sich weder auf die ornamentale Funktion der Entlastung reduzieren noch mit einer Ästhetik des Erhabenen fassen, die einer nachmetaphysischen Theorie der Sinnauflösung verhaftet bleibt.

Lypps kunst-philosophische Studien nehmen eine eigentümliche Stellung zwischen gegenwärtigen Ansätzen zu einer „Souveränität der Kunst“ und kompensatorischen Theorien zum „Verzauberungscharakter“ des Ästhetischen ein. Mit der Behauptung, daß die Kunst durch die Intensivierung der Alltagserfahrung zur subversiven Artikulation von Selbstentwürfen wird, gelingt es Lypp, zwei Dimensionen der Kunst zu vereinen, die sonst streng getrennt werden. Die Kunst wird zum Ort einer Einheit von Erschütterung und Entlastung, die auf dem Boden eines verlorenen Weltvertrauens entsteht, das an der symbolischen, oder besser, allegorischen Oberfläche des Ästhetischen auf rätselhafte Weise inszeniert wird.

Bernhard Lypp, Die Erschütterung des Alltäglichen · Kunst-philosophische Studien . Edition Akzente, Hanser Verlag, München 1991, 325 Seiten, 45 Mark.