STENOTYPISTINNEN MACHEN ES MIT DEN FINGERN Von Ralf Sotscheck

Eine Fahrt mit der britischen Eisenbahn ist eins der letzten Abenteuer in Westeuropa. Es ist völlig ungewiß, wann und wo man ankommt — oder ob man überhaupt ankommt. Vollbesetzte Züge werden in letzter Sekunde vom Fahrplan gestrichen, die verhinderten Reisenden müssen wieder aussteigen und auf den nächsten Zug warten. Es ist praktisch unmöglich, in London eine feste Verabredung zu treffen — man muß gleichzeitig zwei Ausweichtermine angeben. Die Briten lassen das öffentliche Verkehrsroulette erstaunlich gleichmütig über sich ergehen.

Zum Glück hatte Roger Freeman, der Tory-Staatssekretär im Verkehrsministerium, am Freitag eine glänzende Idee, wie die Eisenbahngesellschaft „British Rail“ nach der geplanten Privatisierung von ihrem schlechten Ruf wegkommen und gleichzeitig aus den roten Zahlen fahren könne. Man müsse einfach zwei Klassen einführen: eine luxuriöse für „Beamte und Geschäftsmänner“ sowie eine „billige und fröhliche Klasse für Stenotypistinnen“.

Der geniale Plan löste erwartungsgemäß einen Aufschrei im ganzen Land aus. Bereits am Wochenende trugen viele Frauen Anstecknadeln und T-Shirts mit dem Aufdruck: „Stenotypistinnen machen es mit den Fingern.“ An den Fahrkartenschaltern in den Bahnhöfen verlangten Frauen Tickets der Stenotypistinnen-Klasse: „Ich fühle mich heute besonders billig und fröhlich“, sagte eine. „Und ich möchte keinesfalls die eleganten Bosse, die so schwer schuften müssen, in der ersten Klasse stören.“

Die Labour-Abgeordnete Joan Ruddock verwünschte Freeman in die fünfziger Jahre: „Heutzutage bedienen Sekretärinnen komplizierte Maschinen, die für den Staatssekretär wahrscheinlich ein Buch mit sieben Siegeln sind.“ Ihr Fraktionskollege Dennis Skinner bescheinigte Freeman, „weit über seine Intelligenz hinaus ausgebildet“ worden zu sein.

Auch seine eigene Partei reagierte auf Freemans Bemerkung mit Bestürzung. Tessa Walker, die frühere „Stenotypistin“ des konservativen Abgeordneten Ian Gilmour, sagte: „Du liebe Güte, der Satz ist nun auf dem Tisch. Was kann ich danach noch sagen?“ Freeman sah seine Dummheit ein — nicht zuletzt deshalb, weil ihn sein Boß, Premierminister John Major, an die Tory-Vision der klassenlosen britischen Gesellschaft erinnerte. „Es war eine dumme Bemerkung, die mich gelehrt hat, daß man als Politiker niemals leichtfertig reden darf“, kroch der Staatssekretär zu Kreuze. „Wenistens spricht meine Frau noch mit mir.“

Der Spießrutenlauf blieb ihm jedoch nicht erspart. Am Montag morgen zog er, mit Blumen und Pralinen bewaffnet, durch sein Ministerium, um die „Stenotypistinnen“ — immerhin einige hundert — zu beruhigen. An seinem Sanierungsplan für British Rail hält er dennoch fest, allerdings in der sprachbereinigten Fassung: So sollen „verschiedene Züge für die verschiedenen Bevölkerungssektoren“ eingesetzt werden. British Rail war von Freemans Idee verblüfft. „Wir haben seit 150 Jahren verschiedene Klassen bei der Eisenbahn“, sagte ein Sprecher am Wochenende. „Das ist ja überhaupt nichts Neues.“ Das konnte der Staatssekretär freilich nicht wissen. Als wohlhabender Wirtschaftsprüfer mit einer Zwei- Millionen-Villa in West-London und einem Landsitz in Leicestershire kommt er vermutlich nur höchst selten mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Berührung.