piwik no script img

Immer eine ganze Rolle abfilmen

■ Kurzfilme von Herbert Fritsch im Babylon (Ost)

Ein spiegelglatter See. Eine bewaldete Insel, dahinter Felder, sanfte Hügel, Wald. Im Vordergrund das Ufer. Die Kamera in Cinemascope bleibt unbewegt. Es ist sehr kalt. Draußen im See, etwa in Bildmitte, taucht ein Mann auf... Und zittert. Gekrümmt und in Dolby Stereo schnatternd, watet er durch das Breitformat. Bald erscheint, sehr viel näher, noch ein Herr, um leidend wie jemand, der wirklich am ganzen Leibe friert, in den zur Pressevorführung unbeheizten Zuschauerraum zu blicken.

Mit dem Notizblock in der erfrorenen Hand blicken wir zurück und nehmen Anteil am Alltäglichen. Dreizehn Minuten und zehn Sekunden läßt Regisseur Herbert Fritsch sich Zeit, die Szene zu überdrehen, indem er sie einfach laufen läßt und seine Schauspieler ununterbrochen der Kamera exponiert. Knapp zwei Dutzend frierender Badegäste beleben allmählich den Ausschnitt, bis die Filmrolle verbraucht ist.

Der starren, tiefenscharfen Einstellung, die genug Raum für müßige und voyeuristische Blicke auf das bildliche Durcheinander läßt, entsprechen 36 Tonspuren, die die Szene akustisch durchmessen. Im Gegensatz zur ungeschnittenen Bildfolge wurde der Zitterchor mit zahlreichen Over-Dubs komplett nachvertont. Die Stimmen sind an so unterschiedlichen Orten im Hörraum plaziert, daß es bereits mono eine Freude war. Sollte die neue, bereits installierte Tonanlage des Babylon zur Premiere schließlich funktionieren, kann gehört werden, was den 1990 ohne Fremdförderung produzierten Kurzfilm 40.000 DM teuer gemacht hat.

Vorbereitet hat Fritsch, der im Brotberuf Schauspieler in Düsseldorf ist, seine teure filmische Perle mit einigen Schwarzweißfilmen, die in einem Programm mit Zitterchor aufgeführt werden. Neben dem Ohrenwurm — einer Art Stillen Post für sechs Schauspieler — ist eine Reihe von sechs Kurzfilmen recht unterschiedlicher Qualität unter dem Titel Die Suppe zu sehen. Wer die nervtötenden Intermezzi mit kunstpädagogischer Intention übersieht, wird mit stillen Meisterwerken belohnt.

Das Prinzip, den Schauspielern eine zehnminütige Filmrolle lang Platz zur beinahe freien Gestaltung zu überlassen, macht Fritschens 1984 in der Schweiz realisierten Minimal Inszenierungen mit Schlichtheit ergreifend. »Im Verlauf meiner täglichen Beobachtungen mit dem Fernglas«, erklärt Schauspieler Laszlo I. Kish sein Wirken in der Suppe, »habe ich von meinem Zimmer aus gesehen, daß auch der Mann von gegenüber sich am Arsch kratzt. So kriege ich langsam Mut, diesen Wahnsinn in der Öffentlichkeit zu pflegen.«

Ein Mann steht allein an der Bushaltestelle und ißt — erst schamhaft, dann zielsicher — die Mülltonne leer. Eine Frau mit Kinderwagen steht am Ufer eines Flusses, welcher der Länge nach von der Zürcher Stadtautobahn überspannt wird. Sie schaukelt ein imaginäres Kind im Wagen, der Fluß fließt, Passanten gehen vorüber — sonst geschieht nichts. Außer dem unablässigen Quietschen der Federung ist wenig zu hören. Ich habe selten etwas Aufregenderes im Kino gesehen. Stefan Gerhard

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen