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Streit in russischer Führung verhärtet

■ Chasbulatow bleibt bei Rücktrittsforderung/ Kontroverse um wirtschaftliche Schwierigkeiten/ Jelzin will Regierungschef bleiben/ Niederlage vor dem Verfassungsgericht

Moskau/London (dpa) — Die Fronten im Streit der russischen Führung angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten haben sich verhärtet. Der Präsident des russischen Parlaments, Ruslan Chasbulatow, beharrte in einem Interview mit der Zeitung 'Financial Times‘ auf seiner Rücktrittsforderung an die russische Regierung. Boris Jelzin — sowohl russischer Präsident als auch Regierungschef — und sein Stellvertreter Jegor Gajdar wiesen die Forderung zurück. Das russische Verfassungsgericht erklärte unterdessen den Erlaß Jelzins über die Bildung eines „Sicherheitsministeriums“ aus Innenministerium und Geheimdienst KGB für verfassungswidrig.

Chasbulatow erklärte der 'Financial Times‘, das Land habe „die Nase voll von Experimenten“. Eine Änderung des gegenwärtigen Programms der Wirtschaftsreform werde von vielen Seiten verlangt. Deswegen müsse die Regierung zurücktreten. Er nannte es einen „großen Fehler von Jelzin, die Regierungsführung zu übernehmen“. Er betrachte sich zwar weiterhin als einen engen Mitarbeiter des Präsidenten, sei aber bereit, die Macht des Parlaments zu benutzen, um Jelzin zu blockieren.

Der russische Wirtschaftsminister und stellvertretende Regierungschef Jegor Gajdar verteidigte demgegenüber in einem Interview mit der Zeitung „Iswestija“ die Politik der Regierung. Natürlich habe die strikte Finanzpolitik sie einen Teil der öffentlichen Zustimmung gekostet. Aber, so sagte Gajdar im Hinblick auf die Kritik Chasbulatows, „Politiker scheinen in ihren Forderungen an die Regierung unbeständiger und ungeduldiger zu sein als Wähler“. Er erklärte, die geforderten Steuererleichterungen seien unausweichlich, würden jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt „an Selbstmord grenzen“.

Boris Jelzin hält an seinem Amt als russischer Regierungschef fest. Er sagte bereits am Dienstag bei seinem Besuch in der westrussischen Stadt Brjansk, daß er auch das gegenwärtige Kabinett weiter stützen werde. Die Rücktrittsforderung von Chasbulatow nannte Jelzin „emotional“ — ein Vorwurf, den dieser zurückwies.

Der Priester Gleb Jakunin, ehemaliger Dissident und jetzt Abgeordneter im russischen Obersten Sowjet, hielt Chasbulatow auf der Parlamentssitzung am Mittwoch vor, mit seiner Forderung die „parlamentarische Etikette“ verletzt zu haben. Diese Art von Konflikt mit der Regierung müsse aufhören: „Sonst lädt das Volk, das auf die Straße geht, uns zu sich nach draußen ein — raus aus dem Weißen Haus oder dem Kreml“, zitierte die Nachrichtenagentur Interfax Jakunin.

Die innenpolitischen Schwierigkeiten der Jelzin-Führung setzten sich vor dem russischen Verfassungsgericht fort. Nach zehn Stunden Verhandlung entschied das Gericht am Dienstag, das der Erlaß Jelzins vom 19. Dezember vergangenen Jahres über die Zusammenlegung von Innenministerium und dem ehemaligen Geheimdienst KGB nicht verfassungsgemäß sei. Der Präsident habe nicht das Recht, die Struktur oberster Staatsorgane per Erlaß zu verändern. Jelzins Rechtsberater und Vize-Regierungschef Sergej Schachraj, der den Präsidenten vor Gericht vertrat, beklagte gegenüber Interfax, die Entscheidung trage „politischen und keinen juristischen Charakter“. Die Regierung werde sich jedoch dem Gerichtsurteil beugen.

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