Die Dauerkrise der Hamburger SPD

Hamburgs regierende SPD torkelt von Krise zu Krise/ Bürgermeister Voscherau ist angezählt/ Spekulationen über Rücktritt und Neuwahlen/ Tieferer Grund: der Filzkrebs 100jähriger SPD-Macht  ■ Aus Hamburg Florian Marten

Am 2.Juni 1991 noch strahlender Wahlsieger mit einer sensationellen absoluten Mehrheit im Stadtparlament, anschließend Bundesratspräsident mit vielbeachtetem Einsatz für die Sache des Förderalismus, zuletzt bereits als Bundesminister in einem Kabinett Engholm im Gespräch: Henning Voscherau, Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, schwebte vor Wochen noch im siebten Karrierehimmel.

Der Übergang in den freien Fall kam schnell und radikal. Die Umfragewerte sackten in den Keller, Voscheraus Epigonen im Springerverlag, die das 'Hamburger Abendblatt‘ und 'Bild‘ Hamburg zeitweise zu halboffiziellen Regierungsorganen gemacht hatten, hoben plötzlich Rücktrittsgerüchte in ihre Blätter. Voscherau dementierte Anfang dieser Woche nur müde. In der Partei, der die Mitglieder zu Hunderten weglaufen, in der SPD-Fraktion, die nach ihrem Diätendesaster verzweifelt nach einem politischen Strohhalm fahndet, und im Senat, der sich fragt, ob er das Wort Erfolg noch buchstabieren kann, wird bereits über mögliche Neuwahlen mit schonungslosem Selbstreinigungscharakter fabuliert — eine deftige Wahlniederlage bewußt einkalkuliert.

Wer nach den Ursachen dieses Einbruchs gründelt, begegnet zunächst nur Fakten, die in die entgegengesetzte Richtung weisen: Nach fast zwei Jahrzehnten Stagnation boomt die Stadt. Zusammen mit Berlin ist sie die Gewinnerin der Einheit. Die Arbeitslosenzahlen purzeln, die Wachstumsrate liegt weit über dem Bundestrend, sogar die chronisch ausgeblutete Stadtkasse hat mit unerwarteten drei Milliarden Mark Mehreinnahmen in den nächsten Jahren wieder eine Perspektive. SPD- Landeschef Helmuth Frahm jubelte vorsichtshalber schon mal: „Geld für Reformpolitik ist da.“

Auch das Basisbundament scheint überaus solide, wie Altkanzler Helmut Schmidt betont. Er meint damit jene geheimnisvolle politische Ursubstanz der Hansestadt, die es möglich macht, daß anno 1992 immer noch der Politanachronismus einer absoluten SPD-Mehrheit das Sagen hat: Es handele sich, so Analytiker Schmidt, um die „Ehe zwischen Kaufmannschaft und Arbeiterklasse“. Sie sei Fundament der blühenden Hansestadt.

Bleibt die Sache mit den Diäten: Gegen den Willen von Voscherau hatten sich CDU- und SPD-Fraktion in einer großen Diätenkoalition eine verfassungswidrige Diätenerhöhung und Altersrente spendiert, die nach heftigsten öffentlichen Erdbeben von Voscherau und Frahm selbst in letzter Sekunde gestopt wurde. Gestern abend akzeptierte die Bürgerschaft das Stop des Diätencoups und setzte reumütig einen Untersuchungsausschuß ein, der die Vorgeschichte des Coups, darunter eine ausgesprochen seltsame Erhöhung der Senatsrenten im Jahr 1987, unter die Lupe nehmen soll.

Wie aber kann das bißchen Diätengeierei, sogar von Voscherau selbst gestopt, eine grundsätzliche Krise auslösen, die in Art und Ausmaß an die chaotischen Zuckungen vor dem Ende der SPD-Herrschaft in West-Berlin erinnert? Die Antwort ist verblüffend einfach: Gerade weil es der SPD seit Jahrzehnten in der auf Herrschaftskonsens und Filz ausgelegten Stadt so gut geht, konnte sie sich bis heute um eine wirkliche Erneuerung drücken. Die Machtstrukturen der Wirtschaftswunderjahre, jener Koalition von sozialstaatlichen Spendierhosen, Facharbeiterschaft und Investitionsbeton, die sich in Seilschaften und Männerbünden Pfründe und Posten teilt, sie gelten in Hamburg bis heute unverändert fort. Und das, obwohl große Teile der SPD-Basis und auch einige führende Köpfe den Bruch mit dieser Vergangenheit wollen. Pikant: Der DGB, die ÖTV und sogar die IG Metall, bewährte Filzpartner seit Jahrzehnten, haben den Bruch durch grundlegende Erneuerung ihrer Führungsriegen vollzogen.

Nicht so die SPD: Stadtchef Henning Voscherau ist selbst Zögling der „Wandsbek-Connection“, jener SPD-Machtzentrale im Stadtteil Wandsbek, welche die Stadt seit Jahren beherrscht. Die Wandsbek-Connection kanzelte 1988 Bürgermeister Klaus von Dohnanyi wegen seines friedfertigen Umgangs mit den Häusern in der Hafenstraße und hob ihren Musterschüler Voscherau auf den Stadtthron. Voscheraus Bemühungen, sich von dieser Vergangenheit zu lösen, schlugen fehl. An zu vielen krummen Dingern war er selbst beteiligt, nicht zuletzt an jenem Senatorenversorgungswerk von 1987, welches dem Diätencoup als Vorbild diente. Jetzt sitzt Voscherau zwischen allen Stühlen: Die Wandsbek- Connection hat er mit dem Stop des Diätendinges zu tödlichen Feinden gemacht — als Kopf einer Erneuerergang taugt er auch nicht.

Die von Voscherau und seinen wenigen Bundesgenossen derzeit gehandelten Rettungsvisionen orientieren sich am Vorbild Helmut Kohl: Politisch nichts wagen, Aussitzen und klammheimlich die Machtzentrale im Bürgermeisteramt stärken. Politische Beobachter, auch in der Hamburger SPD-Spitze, geben dieser Strategie allerdings wenig Erfolgsaussichten: Der Untergang ließe sich so bestenfalls aufschieben, das Ende aber um so schrecklicher sein.