: Zerrissene Briefe, zerstrittene Herausgeber
Die Edition der Texte von Harriet Straub kommt nicht voran ■ Von Silvia Volckmann
Bei den europäischen Schriftstellern des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts war es nahezu ein Muß, über den Orient und seine BewohnerInnen zu schreiben. Wer sein Wissen nicht aus eigener Erfahrung schöpfte, hielt sich an die Geschichten aus 1001 Nacht, an biblische Legenden oder — wie etwa Karl May — an Reisebeschreibungen aus zweiter und dritter Hand. Speziell interessierten sich die Autoren, die angesichts des expandierenden Kapitalismus von den Idealen der abendländischen Kultur enttäuscht waren, für „die orientalische Frau“. Sie war ihnen Projektionsfläche schwülstiger erotischer Phantasien, mit deren Hilfe sie vor dem banalen Alltag in eine aufregend fremde und befremdliche, kontrastreiche und bunte Welt entfliehen konnten. „Die orientalische Frau ist eine Maschine, nichts sonst“, schreibt Flaubert, der wenige Jahre zuvor eine ausgedehnte Orient-Reise unternommen hatte, 1853 an seine Geliebte. „Sie macht keinen Unterschied zwischen dem einen Mann und dem andern. Rauchen, baden, sich die Augenlider malen, Kaffee trinken, das ist der Kreis der Beschäftigungen, in dem sich ihr Dasein bewegt. Was die physische Lust betrifft, so ist diese gewiß sehr gering, denn man schneidet ihnen sehr frühzeitig den berühmten Muskel, Sitz derselbigen, ab. Und was diese Frau in gewisser Hinsicht so poetisch macht, ist, daß sie absolut in die Natur eingeht.“
Daß die schöngeistige Faszination durch den Orient die Kolonialpolitik der europäischen Großmächte ideologisch flankierte, ist mittlerweile eine bekannte Tatsache. Weniger bekannt ist, daß sich unter den Orient- Begeisterten auch Frauen befanden, die den Trend in ihrem Sinne zu nutzen wußten. Für sie war der Weg in den Orient anders als für die Männer ein Akt der Emanzipation; er bedeutete einen radikalen Bruch mit dem Leben als Ehefrau und Mutter, zu dem sie ihre meist bürgerliche Herkunft prädestinierte.
Vor einigen Jahren hat der Fischer-Verlag die Tagebücher und Schriften der Isabelle Eberhardt veröffentlicht. Jetzt sollte im Kore-Verlag Freiburg eine Werksammlung Harriet Straubs folgen. Sollte, denn die Edition gestaltet sich unerwartet schwierig.
Zunächst: Wer war Harriet Straub? Lebensdaten, zu einer Kurzbiographie zusammengerafft, mögen eine erste Antwort auf diese Frage liefern: Geboren wurde Hedwig Luitgardis Straub 1872 in Emmendingen bei Freiburg. Die Tochter eines Notars besuchte in Berlin die Gymnasialkurse Helene Langes, studierte in Zürich und Paris Medizin, um dann zehn Jahre im Auftrag der französischen Regierung als Ärztin in der Sahara zu arbeiten. Zwei kurze Ehen (einschließlich Scheidung) hatte sie hinter sich gebracht, als sie um 1907 den bereits sechzigjährigen Sprach- und Kulturphilosophen Fritz Mauthner kennenlernte und später — nach drei Jahren „wilden“ Zusammenlebens — heiratete. Gemeinsam arbeiteten die beiden an Mauthners Wörterbuch der Philosophie und seinen folgenden religionskritischen Werken. Gleichzeitig publizierte Hedwig Mauthner eigene Texte, eine Arbeit, die sie auch nach dem Tod ihres Mannes fortsetzte, bis die Nationalsozialisten der „Judenwitwe“ die Existenzgrundlage entzogen. Die Jahre bis zu ihrem Tod 1945 verbrachte die vormals unabhängige Frau zurückgezogen und angewiesen auf die Unterstützung von Freunden in Meersburg am Bodensee.
So weit die Fakten. Harriet Straub (das halbe Pseudonym läßt sich programmatisch verstehen) ist keine Autorin, deren Leben und Schaffen bislang durchleuchtet oder auch nur einem Kreis von Fachleuten bekannt wäre. Umso ärgerlicher ist es, daß jetzt über der Frage, wer diese Frau wirklich war, das Projekt einer Werkausgabe vorerst storniert wurde. Käuflich zu erwerben ist derzeit nur Vereinzeltes: die Ruppertsweiler Leut im Herder-Verlag und die Zerrissenen Briefe bei Kore. Der bereits ausgelieferte Band Wüstenabenteuer. Frauenleben mußte aus urheberrechtlichen Gründen eingestampft werden. In dem inkriminierten Band finden sich einfühlsame Darstellungen des arabischen „Frauenlebens“ neben Reflexionen über die Enge im Leben der Annette von Droste-Hülshoff; eine Absage an den schleichenden Tod im Gewand ungetrübten Eheglücks steht hier neben einem, wie der Herausgeber schreibt, „karlmayenden“ Wüstenabenteuer. Was immer die Verlegerin des Kore-Verlags bewogen haben mag, die juristische Seite der Edition derart sträflich zu vernachlässigen, offenkundig ist, daß die Harriet Straub, die der Rechtsinhaber, der Emmendinger Kaufmann Herbert Burkhardt (mehr oder weniger nur) im Kopf hat, mit der des Kore-Herausgebers Ludger Lütkehaus nur entfernt zu tun hat.
Bereits ein oberflächlicher Blick auf die beiden Bände des Kore-Verlags zeigt, daß genauere Forschungen hier Entscheidendes über die Hoffnungen und Enttäuschungen, die Selbstentwürfe und die Lebensbedingtheiten jener Frauen zutage fördern könnten, die drei Generationen vor uns mit den üblichen Rollenerwartungen gebrochen haben. Harriet Straub war — wenn auch nicht ein großes dichterisches Genie — so doch eine der wenigen Frauen ihrer Zeit, die sich weigerten, ihre persönlichen Unabhängigkeitsbestrebungen in der Ehe „oder im Schoß der Kirche“ ersticken zu lassen. Wenn sie „aus der Wüste“ schreibt, so tut sie dies mit einem Respekt für das Fremde, den nur die aufbringt, die in der Männerwelt selbst als Objekt der Kolonialisierung gehandelt wird.
Nicht, daß nicht auch Harriet Straub eine teilweise glorifizierende Sichtweise des Orients hätte. Skeptisch befaßt mit dem Opium des Volkes, konfrontiert sie wie viele ihrer Zeitgenossen die zwar grausame, zugleich aber unmittelbarere und sinnennähere Moral der Beduinen mit der christlichen „Lüge“. Auch sie feiert den Orient als eine Welt, die Erfahrungen im Erlebnisfeld zwischen Ekstase und Tod verspricht. Den roten Faden aber — das zeigen die Zerrissenen Briefe — liefert ihr nicht das Motiv der Flucht in eine phantasierte Wirklichkeit; Kern- und Angelpunkt ihres Schreibens ist vielmehr die „Befreiung“ aus den Zwängen der bürgerlichen Familiennorm. Daß sie dabei auch mit sarkastischen Angriffen auf die Mittäterinnenschaft der eigenen Geschlechtsgenossinnen nicht spart, unterstreicht einmal mehr die Aktualität dieser Autorin: „Die Minderwertigkeit der Frau ist wirklich eine gar nicht mehr zu bestreitende Tatsache... hätten charaktervolle, sinnbegabte Menschen sich soziale Einrichtungen gefallen lassen, wie sie von Männern nach Männermaß zurechtgeschnitten worden; hätten sie sich auch nur Schriften gefallen lassen, wie die von Möbius, Strindberg, Weininger, ohne mit einem Generalaufstand, einem Generalstreik, die Haltlosigkeit und Unlogik der dort aufgestellten Behauptungen zu erweisen?“
Schade, daß Harriet Straub nun in Burkhardt einen Herausgeber bekommen soll, der aus ihr eine erbauliche Heimatdichterin, eine „ewig Suchende ... nach Erfüllung im christlichen Glauben“ machen will. Sie hat es nicht verdient, dem Pingpong mit Urheberrechten zum Opfer zu fallen.
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