Die Erschaffung der Erde in sieben Minuten

Am Anfang war das Startwort: Diskette auf Festplatte kopieren, „SimEarth“ eintippen, und es ward Licht auf dem Monitor. Und siehe: die Erde war wüst und leer. Und es erschien eine Dialogbox, die fragte nach dem Spielmodus und der Art des zu erschaffenden Planeten. Und wir wählten „Zufallsplanet“ und „Geologische Epoche“, und schon schwebt der Geist über den Wassern — in Form des Mauszeigers.

Nirgendwo ist auch nur der Hauch von Leben zu entdecken. Kein Wunder: wir befinden uns auf einem erdähnlichen Planeten vor 4,5 Milliarden Jahren, der soeben erst einigermaßen abgekühlt ist von den kosmischen Urgewittern. Der Wasserdampf kondensiert, und es hat sich ein Ozean gebildet, aus dem nur sporadisch Festlandinseln auftauchen, die immer wieder überspült werden. Da muß etwas geschehen. Wir beschließen, Wasser und Erde zu scheiden, und klicken den Werkzeug-Kasten zur Erdgestaltung an: Meteoriteneinschlag/Erdbeben/Hurricane/Vulkanausbruch/Atomtest/Flutw elle— ein paar Vulkanausbrüche müßten es wohl tun. Also Vulkan gewählt und gezielt in der Nähe der größten Inseln ausgelöst. Hey, wie das rumst, und schon entsteht neues Festland und macht aus den Inselchen zwei ansehnliche Kontinente. Aber was ist das? Eine Warnung läuft über den Bildschirm: Vorsicht! Hohe Staubkonzentration in der Luft. Ein Blick auf die Klima-Daten zeigt 12 Prozent Staub und steigende Kohlenstoff-Konzentration, und ehe wir noch ahnen, was das bedeutet, wird das Ergebnis schon sichtbar: Im Süden und im Norden verwandelt sich der blaue Ozean in Eis. Mit den Vulkanausbrüchen haben wir zwar ein bißchen mehr Festland gewonnen, gleichzeitig aber die Atmosphäre so versaut, daß die Sonne schwer durchkommt. Die Vereisung schreitet voran, was tun? Pflanzen müssen her, um das CO2 zu vertilgen. Der Biom-Werkzeugkasten bietet Arktis/Tundra/Grasland/Wald/Dschungel/Sumpf, so ein richtiger Dschungel wäre das Richtige.

Doch kaum haben wir ihn angepflanzt, geht er auch schon wieder ein — was sind das für Urzeiten, in denen nicht mal ein Urwald wachsen will? Eine neue Anzeige blinkt auf, begleitet von Musik: „Mit der Ursuppe ist der Replikator entstanden, ein Molekül, das über die einzigartige Fähigkeit verfügt, sich zu reproduzieren.“ Fünf Millionen Jahre (knapp eine halbe Minute) später erneut eine Fanfare: „Prokaryoten haben sich entwickelt“ — wer sagt's denn, der Planet beginnt zu leben. Prokaryoten, so das Hilfsmenü, sind Einzeller, die als Blaualgen oder Bakterien den Ozean bevölkern. Und nun geht es Schlag auf Schlag, schon bald wimmelt es im Ozean von Ein- und Mehrzellern, und das Eis geht ein wenig zurück. Daß im Buch Genesis die Reihenfolge anders beschrieben ist — vor den Wassertieren setzt der Schöpfer die Pflanzen in die Welt —, muß ein Fehler sein, ohne Leben im Ozean, so zeigt SimEarth, tut sich auf dem Land nichts.

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SimEarth ist ein Planetensimulator, der es ermöglicht, vorgegebene oder selbst geschaffene Planeten zu gestalten und zu entwickeln — ein Software-Spielzeug, auf das das Medien- Modewort „Infotainment“ einmal wirklich und uneingeschränkt zutrifft. Sowohl was den „Info“-Gehalt betrifft — nie habe ich über die Wechselwirkungen von Erdoberfläche, Atmosphäre und Organismen schneller und mehr gelernt als in diesem Spiel — als auch, was „Entertainment“ angeht: selten hat die Aneignung von Wissen soviel Spaß gemacht wie beim „learning by doing“ mit SimEarth.

Auch wenn die Götter vor die Rolle als Schöpfer ein wenig Schweiß gesetzt haben: es braucht ein paar Stunden, sich mit den vielfältigen Daten, die über den aktuellen Zustand des Planeten Auskunft geben, und den Beeinflussungsmöglichkeiten zurechtzufinden. Doch mit dem über 200 Seiten dicken, ausgezeichneten Handbuch (und einem jederzeit aufrufbaren Hilfsmenü) geht auch diese Mühe mit Spaß von der Hand — denn die elektronischen Bewohner von SimEarth haben ihren eigenen Kopf. Sie versuchen, die für ihr Überleben günstigen Bedingungen aktiv zu beeinflussen, gleich, ob es sich um Pflanzen, Einzeller, Insekten, Saurier oder Menschen handelt, ihr Verhalten entspricht dem bekannten Grundsatz: „Nach uns die SimFlut“. Einmal in die Welt gesetzt, breiten sie sich aus, da kann auch der Schöpfer nichts mehr machen — es sei denn, er schickt, wie weiland Jahwe, ein paar üble Katastrophen oder verändert elegant das Simulationsprogramm und sorgt durch erhöhte Sonneneinstrahlung oder niedrigeren Treibhauseffekt für ihre Diskriminierung. Nun können sich andere Arten emporschwingen— auch Vögel oder Saurier können Intelligenz entwickeln und entdecken bei für sie förderlicher Biosphäre irgendwann Feuer, Eisen, Industrie und Kernspaltung. Nun ist jede Simulation nur so gut wie die Systemregeln, die sie beschreiben — wie soll es, wo die schnellsten Super- Computer derzeit nicht einmal ein exaktes Klima-Modell berechnen können, auf einem normalen PC möglich sein, die gesamte Evolution zu simulieren? Natürlich nur durch extreme Vereinfachungen — simuliert wird die Landkarte, nicht das Territorium. Daß dieses Modell dennoch so nützlich, unterhaltsam und von überraschender Komplexität ist, hat mit der Theorie zu tun, auf der es basiert. Es ist die Gaia-Theorie von James Lovelock, die besagt, daß unser Planet insgesamt einen Super-Organismus darstellt, dessen lebenserhaltende Biosphäre kein Zufall ist, sondern von ihm selbst aktiv gestaltet wird. Die Entwicklung der Gesteine, der Atmosphäre, der Meere und der Organismusarten stellte Lovelock in seinen Büchern als eng verbundenen Wechselwirkungsprozeß, als ganzheitliches, selbstorganisiertes Geschehen dar.

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Viele zurückgebliebene Naturwissenschaftler halten die Gaia-Theorie für romantisierenden Kitsch, doch im Gegensatz zu diesen Kollegen kann Lovelock erklären, warum der Sauerstoffgehalt der Luft seit 200 Millionen Jahren ebenso konstant ist wie die durchschnittliche Erdtemperatur seit 3,5 Milliarden Jahren, obwohl die Wärmeausstrahlung der Sonne seitdem um 25 Prozent zugenommen hat. Daß der Steuerungsintelligenz des Planeten nichts Mystisches oder Teleologisches (d.h. auf ein anderes Ziel als Selbsterhaltung des Lebens gerichtetes Verhalten) anhaftet, zeigt das SimEarth-Modell eines Gänseblümchen-Planeten: Durch die Farbe ihrer Blattoberfläche halten die Blumen die Temperatur konstant — wird es kälter, sind die wärmespeichernden schwarzen im Vorteil, nimmt die Sonnenwärme zu, dominieren bald die weißen Blumen.

„Dynamik des Nicht-Gleichgewichtzustands“, „dissipative Strukturen“, „Selbstorganisation“, „Ordnung durch Chaos“ — wem diese Formeln eines prozeßoffenen Evolutionsbegriffs noch eher spanisch vorkommen, kann bei diesem Spiel praktische Erfahrung mit dem neuen naturwissenschaftlichen Paradigma sammeln.

Entwickelt wurde SimEarth in der kalifornischen Software-Schmiede Maxis, die zuvor schon einen kleinen Bruder, SimCity, konzipiert hat — mittlerweile ein Klassiker, den zu spielen jedem Kommunalpolitiker zur Pflicht gemacht werden sollte, kann man als Bürgermeister doch zum Beispiel lernen, daß es keinen Sinn macht, den nervigen SimMonstrationen freier Bürger für „Freie Fahrt“ nachzugeben und immer mehr Straßen zu bauen: sie ziehen die Autos an wie Honig die Bienen. Mit dem Planeten bei SimEarth dürfen wir getrost so sorglos umgehen, als hätten wir noch einen zweiten im Kofferraum, und etwa zusehen, was geschieht, wenn wir in der Jetztzeit alle fossilen Brennstoffe verheizen, oder voll auf Kernkraft setzen und warten. Das nächste große Erdbeben kommt bestimmt. Das Leben aber geht weiter, daß es das menschliche sein muß, steht bei Gaia, und in diesem Programm, nirgendwo geschrieben — die Erde lebt, auch ohne uns. Mathias Bröckers

SimEarth — The Living Planet . Mit deutschem Handbuch und Tutorial, Version für IBM-PC ca. 120DM (auch für Amiga, Atari, Mac erhältlich), Vertrieb: Bomico, 6092 Kelsterbach. Hardwarebedarf: 640 KB Ram, 1,5 MB Platz auf der Festplatte, Graphikfähigkeit: Hercules, EGA, VGA.