: In der GUS geht die „Hilfsmigräne“ um
Über die politischen Erwägungen der Spender und moralischen Bauchschmerzen der Empfänger von Hilfslieferungen in die ehemalige UdSSR/ Hilfsgüter auch aus Benin und von den Faröer-Inseln/ Zwischen Not, Korruption, Beschämung und Würde ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Vor über einem Jahr begannen die Hilfslieferungen in die ehemalige Sowjetunion. Jene GUS-BürgerInnen jedoch, denen die Allgemeinheit wahrhaft am Herzen liegt — und solche gibt es durchaus — fühlen jetzt zusätzlich zu den alten Kopfschmerzen eine neue Pein: die „Hilfsmigräne“. Stimmt es wirklich, daß — wie westliche Experten schätzen — 80 Prozent der Hilfslieferungen ihren Bestimmungsort nicht erreichen? Und wenn ja, ist es nicht ebenso beschämend wie lächerlich, daß sich jetzt schon Bundeswehrgeneräle — der landesüblichen Sprachen und Tricks unkundig — anmaßen, das Rätsel des Bermuda-Dreiecks zwischen Transport, Lagerung und Verteilung, in dem die Hilfe verschwindet, zu lösen?
Sogar Länder wie der Kongo, Burundi, Benin, die Faröer-Inseln, Sri Lanka und Vietnam helfen den GUS- Staaten jetzt mit unentgeldlichen Lebensmitteln und Warenlieferungen, allen voran aber die Bundesrepublik Deutschland, danach die USA. Wenn man von der Dankbarkeit einiger Drittweltländer gegenüber den jetzt bedürftigen Ex-Sponsoren absieht, sind dabei nicht nur moralische Motive im Spiel. Dabei wollen wir Fälle, wie den zu Hause nicht absetzbaren Reis aus einem ehemaligen Bruderland und das vielumrätselte Rindfleisch aus England, hier einmal ganz außer acht lassen.
Natürlich geht es bei alledem unter anderem um Einflußsphären und Propaganda. Aus politischen Erwägungen wird vor allem den Großstädten geholfen. Und könnte der sich unter den Bergleuten im Donbass und Kusbass-Gebiet ansammelnde soziale Zündstoff nicht auch ganz Europa in Brand setzen? Auch die Belieferten haben bisweilen moralische Bauchschmerzen. „Wir sind arm und nicht stolz!“, schreibt die Kommentatorin Tatjana Zyba in der Tageszeitung 'Moskowskij Komsomolez‘. „Wenn wir uns abends im Fernsehen die hungernden äthiopischen Kinderchen anschauen, die genau wie wir humanitäre Hilfe aus aller Welt erhalten, konstatieren wir zufrieden, daß es mit uns doch noch nicht ganz so weit gekommen ist. Und regt sich dabei nicht auch noch ein anderes Gefühl?“
Die ausländische Hilfe zählt Hunderte von Tonnen und ist doch, nüchtern betrachtet, nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Den größten Teil bekommen die slawischen Länder Rußland, Weißrußland und die Ukraine. Und innerhalb Rußlands selbst landen 67 Prozent in Moskau, 17 Prozent in St. Petersburg. Im Winter des vorigen Jahres hat Moskau zweieinhalbtausend Tonnen Hilfsgüter erhalten — doch das sei allein schon das Gewicht der Fleischmenge, die die Bevölkerung der Zwölfmillionenstadt an einem einzigen Tag verzehre, gab kürzlich der Moskauer Vizebürgermeister zu bedenken. Und dabei enthält die „Hilfe“ ja auch Medikamente und Kleidung.
Die Justizorgane sind keineswegs völlig untätig. Nachdem das Fersehen kürzlich auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo gefilmt hatte, wie aus den USA gelieferte medizinische Güter, Spezialdecken für Patienten mit schweren Verbrennungen, Ultraschallstethoskope, Katheder und Einwegspritzen für die „Schewardnadse-Assoziation“ geliefert wurden, beschloß die wachsame Komissarin Wera Warlamowa auf dem einzigen dortigen Polizeiposten, sich nach Ausschalten der Scheinwerfer die Militärlastwagen noch einmal näher anzusehen, die die Waren abtransportierten. Schon als ihr Trupp die Türen der ersten Fahrerkabine öffnete, flogen aus den nachfolgenden Fahrzeugen die Spezialdecken in den Schnee. „Soldaten sind eben Soldaten!“, erklärte die Beamtin der 'Komsomolskaja Prawda‘ resignierend. „Als ich sie beim Verhör fragte, was sie denn mit den betreffenden Gütern anfangen wollten, antworteten sie mir, die Verpackung war so hübsch!“ Ist also der Westen schuld, weil er seine Hilfe zu hübsch verpackt?
Und hier einige Fälle aus dem „Hilfskaleidoskop“ der Komsomolskaja-Prawda: In der zweiten Rostower Klinik für Erste Hilfe raubten der stellvertretende Chefarzt und der Garagenaufseher gemeinsam unter anderem achtzehntausend Einweg- Infusionsgeräte. Rot-Kreuz-Mitarbeiter der Moskauer Perwomajski- und Proletarski-Bezirke entnahmen den Päckchen systematisch Kaffe, Gepäck und Schokolade. In Pskow wurde ein Vorstandsmitglied des „Verbandes der Invaliden“ verhaftet, der Hilfsgüter im Werte von 5.000 Rubeln entwendet hatte. Die Auswahl deutscher und schweizer Arzneimittel auf den Märkten der Ukraine ist gegenwärtig hervorragend. In den drei slawischen Republiken gibt es zur Zeit insgesamt 67 Fälle von Anklagen wegen Hilfsgüterdiebstahl. Als völlig unaufklärbar gelten fünf Fälle schweren Raubes auf der Moskauer Eisenbahn.
Auch wenn es kaum erschwingliche Lebensmittel in den Geschäften zu kaufen gibt, ist die Idee, Hilfsgüter in Geld für die Bedürftigen umzusetzen, nicht immer absurd. Plausibel erklärte deren Vorsitzender Fedorowskij, seine Moskauer jüdische Gemeinde habe modische Anoraks und Turnschuhe verkauft, die als Hilfe aus den USA eintrafen, um dafür für Rentner Milch, Brot und Gemüse zu erwerben. Dennoch fällte der Moskauer Stadtsowjet Ende letzter Woche einen bahnbrechenden Beschluß: der Verkauf jeglicher Güter aus Sendungen der humanitären Hilfe ist jetzt in der Stadt strikt untersagt. Kein Schwarzmarkthändler und Kioskbesitzer kann sich mehr herausreden, daß ihm die Hilfswaren von den Bedürftigen selbst angeboten worden seien.
Und die „MoskauerInnen auf der Straße“? Sie schämen sich einfach und teilen zumeist den Standpunkt, den Tatjana Zyba in die Worte kleidete: „Wenn wir nicht den exzessiven Mißbrauch der Hilfe verhindern können, dann sollten wir sie lieber überhaupt zurückweisen. Wir sind arm und nicht stolz. Aber völlig bescheuert sind wir nicht!“
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