: Es ging nicht um Genugtuung
■ Vor den Kameras der Welt ging gestern in Berlin der erste Mauerprozeß zu Ende. Mit dreieinhalb Jahren Gefängnis für den Angeklagten Heinrich wertete der Richter die Beweislage eindeutiger als der...
Es ging nicht um Genugtuung Vor den Kameras der Welt ging gestern in Berlin der erste Mauerprozeß zu Ende. Mit dreieinhalb Jahren Gefängnis für den Angeklagten Heinrich wertete der Richter die Beweislage eindeutiger als der Staatsanwalt.
AUS BERLIN THORSTEN SCHMITZ
Am schnellsten ist das Fernsehteam des US- Nachrichtensenders CNN. Um halb acht schon stehen sie mit ihrer Kamera auf einer kleinen Leiter ganz dicht an der Tür, die in den Saal 700 des Landgerichts Moabit führt. Zwei Stunden später, als die neun Verteidiger und die vier Angeklagten ein letztes Mal die newssüchtige Meute passieren, wird sich zeigen, daß CNN tatsächlich den besten Platz ergattert hat: von deren Position aus läßt sich sogar in den Gerichtssaal hineinfilmen. CNN, und wenig später auch der Herr vom ZDF, sprechen die spannendsten Einstellungen durch — keine leichte Aufgabe, schließlich versuchen sie nicht erst seit heute, immer wieder neue Bilder vom Mauerprozeß zu bringen.
8 Uhr 30. Knapp 40 Journalisten stehen sich die Beine in den Bauch, fachsimpeln über das mögliche Urteil. Nach fünf Monaten Mauerprozeß, der zum Schluß nur noch ein Prozeß über die Windungsfähigkeiten ehemaliger Stasi-Mitarbeiter war, wirken sie gelöster als sonst. Das Urteil und somit auch das Prozeßende sind in greifbare Nähe gerückt. Dann kommt der in Sachsen geborene Vorsitzende Richter, Theodor Seidel, begleitet von seinen Beisitzern; die Fotografen knipsen sich wach.
Kurz vor neun: Über 100 Journalisten halten Mikrophone, Kameras und Lampen auf die vier Angeklagten, die sich durch den Halbkreis aus Heimwerkerleitern quetschen. Weil Verteidiger Rolf Bossi in der verspäteten Frühmaschine aus München sitzt, beginnt der letzte Prozeßtag 45 Minuten verspätet. Als er kommt, fragt ihn ein Journalist: „Herr Bossi, ist Ihr schönes Jackett von Mooshammer?“ Bossi: „Nein, dies ist nicht von Rudi.“
Zehn vor zehn. Der Sitzungssaal ist brechend voll — wie schon am ersten Tag. Der Richter erscheint, alle stehen auf. Mit fester Stimme spricht Seidel das Urteil. Die Gesichtszüge der Angeklagten sind starr, außer Andreas Kühnpast schauen sie in Richtung des Gerichts. Als das Urteil verkündet ist, geht ein Raunen durch den Zuschauerraum. Auch die Verteidiger haben mit diesem Urteil nicht gerechnet. Staatsanwalt Herwig Großmann hatte letzte Woche für Bewährungsstrafen zwischen 20 und 24 Monaten plädiert, weil er es für nicht „zweifelsfrei erwiesen“ hält, daß Heinrich den tödlichen Schuß abgegeben hat. Mike Schmidt und Peter Schmett werden freigesprochen, Andreas Kühnpast wird wegen zweifachen versuchten Totschlags in minder schwerem Fall zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt — und Ingo Heinrich, den das Gericht für schuldig befindet, Chris Gueffroy durch einen direkten Schuß ins Herz getötet zu haben, muß für drei Jahre und sechs Monate ins Gefängnis.
Ruhig und mit der Gewißheit, an diesem Tag nicht durch die Verteidiger in seiner Rede gestört zu werden, setzt Richter Seidel mit der Urteilsbegründung an. Er rekonstruiert das Geschehen in der Fluchtnacht vom 5. zum 6. Februar 1989, sagt, weder Gueffroy noch Gaudian hätten damit gerechnet, daß in dieser Nacht geschossen werde. Beide glaubten, der Schießbefehl sei kurzfristig aufgehoben worden, weil der schwedische Ministerpräsident in der DDR auf Besuch weilte. Doch der war schon Tage vorher wieder abgereist.
Vergebens hatten die Verteidiger von Ingo Heinrich während der letzten Verhandlungstage versucht, ihre These zu untermauern, Chris Gueffroy sei von einem Querschläger getroffen worden. Seidel: „Es gibt nicht die Spur eines Zweifels, daß Heinrich der Todesschütze ist.“ Im Gegenteil, er habe „ein Menschenleben ausgelöscht“. In den Ermittlungsakten steht, daß Heinrich aus 37 Metern Entfernung auf Gueffroy gezielt hat. Zuerst auf die Füße, dann aber, als er sah, daß Gueffroy und Gaudian weiterflohen, habe er mit einer Kalaschnikow auf Gueffroys Oberkörper geschossen. „Der Schuß Heinrichs kam einer Hinrichtung gleich.“ Hätte er danebengeschossen, hätte er nichts zu befürchten gehabt. Sagt Seidel.
Die Bewährungsstrafe von Andreas Kühnpast, der „versehentlich“ mit Dauerfeuer geschossen hatte, begründete der 60 Jahre alte Richter mit einem einzigen Satz: „Kühnpast hatte das Glück des Danebengeschossenhabens.“ Glück in diesem Sinne hatten auch die beiden Freigesprochenen. Mike Schmidt hat nicht geschossen, sondern Ingo Heinrich „nur“ den Befehl dazu erteilt, und Peter Schmett hat „nur“ auf die Füße gezielt.
Allen vieren warf Seidel vor, nicht über den Staat nachgedacht zu haben, in dem sie gelebt und dem sie gedient hatten. Seidel: „Die Zeit von 1933 bis 1945 hat uns gelehrt, daß Gesetzgeber Unrecht setzen können.“ Im Leben der ehemaligen Grenzsoldaten vermißte das Gericht die Frage nach dem Warum. Warum etwa wurde der Schießbefehl zeitweise aufgehoben? Warum wurden Grenzsoldaten, die geschossen hatten, von ihrem Regiment versetzt? Warum durften sie mit niemandem über die Schüsse reden? Und warum wurden in allen Unterlagen die Namen der Grenzsoldaten gelöscht? „Sein Gewissen darf man im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts nicht abstellen, wenn es um die Tötung von Menschen geht“, befand Richter Seidel, der bereits 1950 in die Bundesrepublik übergesiedelt war. Das Recht auf Leben habe schließlich jeder Mensch — insbesondere der, der flieht.
Um kurz nach elf beendet der Richter seine Begründung. Heinrichs Verteidiger, Rechtsanwalt Henning Spangenberg, diktiert den Journalisten in den Block: „Das Urteil ist peinlich“, und kündigt Revision an.
Der Versuch von Karin Gueffroy und Christian Gaudian, unbemerkt das Gerichtsgebäude zu verlassen, ist zum Scheitern verurteilt: Kameramännern und Fotografen kreisen sie ein. Ein Reporter hält Frau Gueffroy das Mikrophon vors Gesicht und versperrt ihr den Weg. Er fragt: „Empfinden Sie jetzt Genugtuung?“ Sie sagt: „Ich empfinde keine Genugtuung. Darum ging es auch nicht.“
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