Die „Hände über der Stadt“

Große Banden haben sich den Markt in Moskau aufgeteilt/ Die Arme des Mafia-Kraken reichen in alle Wirtschaftssektoren/ Wie die „Cosa Nostra“ korrumpieren auch hier die „wahren Herren der Stadt“ Justiz, Behörden und Politiker  ■ Aus Moskau Enrico Franceschini

In seiner Zelle des Moskauer Gefängnisses Butiskaya trinkt „Pelé“ Wodka, ißt Kaviar und wartet darauf, daß ihn seine „Freunde“ herausholen. Seine „Geschäftspartner“ haben bereits dafür gesorgt, daß alle Zeugen verschwunden sind; ein Abgeordneter verlangt seine Freilassung und bezeichnet ihn als ehrenwertes Mitglied der Gesellschaft, einen fleißigen Arbeiter, zu Unrecht angeklagt als Räuber und Erpresser. „Sie werden ihm den Prozeß machen“, kommentiert ein russischer Journalist, „und dann wird Pelé wieder zurückgehen, an sein Eckchen.“ „Eckchen“ nennen die Moskauer Gangster den Bezirk zwischen dem Hotel „National“ und dem „Inturist“ nahe dem Kreml. Dort hat Pelé mit seinen „Soldaten“ vor Jahren seine Tätigkeit begonnen.

Im hungernden, korrupten, gedemütigten Moskau ist „Pelé“ einer der jungen „Offiziere“ der Organisierten Kriminalität. Seine Spezialität sind Ausländer: er lauert ihnen nahe Restaurants und Hotels auf, lenkt ihre Aufmerksamkeit durch Prostituierte oder hupende Taxis ab, raubt sie aus und läßt sie meist in Unterhosen zurück. Das „Eckchen“ ist sein Reich, er kontrolliert es auch vom Gefängnis aus, ohne Angst, daß ihm ein Rivale den Bezirk streitig machen könnte. Für die Moskauer Mafia gilt: „Jedem das seine“.

Acht Banden teilen sich derzeit die Stadt auf, sauber geregelt nach Stadtteilen und Branchen. Früher gab es da auch schon mal Bandenkriege. Aber 1988 trafen sich die Bosse im Luxushotel „Dagomys“ am Schwarzen Meer und schlossen Frieden: ganz nach dem Vorbild der amerikanischen „Cosa Nostra“ in den 50er Jahren. Tauscht man den Begriff „Familie“ der Amerikaner mit dem der „Brigaden“ aus, so sind die Moskauer Organisierten das Abbild der italoamerikanischen Mafia. Natürlich wußte man schon früher, daß es organisiertes Verbrechen auch im Sozialismus gegeben hat, doch die Perestroika hat, mit den Ansätzen zu einem freien Markt und unverhülltem Luxus, die Chancen für die „Paten“ im ganzen Land vervielfacht. Im Westen prosperiert der Mafia- Krake vor allem durch den gigantischen Drogenmarkt; in Rußland, wo es an allem fehlt, greifen die Arme des Polypen faktisch in alle Wirtschaftssektoren ein, setzen sich an die Stelle des nur noch fiktiv existierenden staatlichen Marktes mit seinen leeren Geschäften, kontrollieren den Schwarzmarkt, wo die wenigen Reichen dann Konsumismus und Wohlstand zelebrieren.

Der aufgelöste KGB der UdSSR hatte eine Sondereinheit zum Kampf gegen diese Banden eingerichtet, ohne Erfolg. Das Innenministerium hat bis zuletzt behauptet, daß es die Organisierte Kriminalität gar nicht gebe. Doch schon im vorigen Jahr hat das antikonformistische Wochenblatt 'Kommersant‘ eine Landkarte mafioser Macht in Moskau veröffentlicht. Danach schwankt die Gruppengröße zwischen 25 und 300 Personen, von denen 1990 jeder monatlich zwischen 2.000 und 7.000 Rubeln verdient (Durchschnittsverdienst damals: 200 Rubel).

Die größte Bande ist die „Dolgoprudnaya“, die den Norden Moskaus kontrolliert, Restaurants, Hotels, Privatfirmen Schutzgelder abpreßt. Die Brigade „Chechen“ arbeitet im Süden, am Rischky-Markt, die „Inguschy“ widmet sich dem Schmuggel von Pelzen und anderen Luxuswaren (meist aus Italien hereingeschleust), die „Solentsewo“ ist die Mafia des Transportwesens, die „Dimon“ mit Sitz in den Bierlokalen der Udaltsowa-Straße hat das Glücksspiel unter sich. Die Brigade „Assyrian“ ist die Nummer eins im Drogenhandel — Haschisch, Heroin, Kokain; die „Zingara“ ist auf Diebstähle spezialisiert. Eine Sonderstellung nimmt die „Hebräische“ ein: sie arbeitet als übergreifender Informationsdienst und verkauft Hinweise auf lukrative Ziele oder Geschäfte. Die Repräsentanten dieser Gruppe arbeiten ziemlich ungeniert und offen. Als „Advokaten“ sitzen sie in Restaurants herum und geben ihrem Taschenrechner die überschlägigen Verdienste der Lokale ein, Trinkgelder inklusive: Grundlage für die Erpressungssumme.

Wie die Cosa Nostra investieren diese Gruppen auch in legale Wirtschaftszweige, korrumpieren Polizisten, Richter, Politiker und bestrafen erbarmungslos alle, die Zusammenarbeit verweigern. Mittlerweile fühlen sich die „roten Mafiosi“ unberührbar wie einst die Gangster im Chicago Al Capones. „Ihr meint, daß ihr mich gefangensetzen könnt“, schrie letzthin ein Bandenchef bei seiner Festnahme, „doch die wahren Herren der Stadt sind wir.“

Der Autor ist Moskau-Korrespondent von 'la Repubblica‘