: Gestriges Ideal für heutigen Zynismus
Über „JFK“, Oliver Stones jüngste Rettung eines amerikanischen Mythos ■ Von Rolf Paasch
Die offene Limousine des Präsidenten biegt von Dealeys Plaza in der Innenstadt von Dallas links in die Elm Street ein. Schaulustige jubeln John F. Kennedy, seiner Frau Jackie und dem mitfahrenden texanischen Gouverneur John Connolly zu. Sicherheitsbeamte versuchen, die Menge vor dem roten Backsteingebäude des Schulbuchlagers auf den Bürgersteig zurückzudrängen. Dann plötzlich — der schwarze Wagen gleitet gerade auf dem Weg in die Unterführung an einer grasbewachsenen Böschung vorbei — peitschen drei, vier fünf, vielleicht gar sechs Schüsse im überhöhten Dolby-Sound durch das Kino. Auf der Breitleinwand sieht der Zuschauer in Zeitlupe, wie der Kopf des Präsidenten in einem plötzlichen Ruck nach hinten geschleudert wird, ehe John F. Kennedy tödlich getroffen in seinen Sitz zurückfällt.
Jeder Amerikaner hat diese Szene hundertfach gesehen. Die Älteren können sich genau erinnern, wo sie sich an jenem 22.November 1963 aufhielten, als sie von der Ermordung Kennedys erfuhren. Dem Attentat des Jahrhunderts folgte das Trauma einer ganzen Nation.
Und doch sind es gerade diese scheinbar so vertrauten Bilder in Oliver Stones neuestem Film JFK, die jetzt in den USA für eine politische Aufregung sorgen, wie sie ein Hollywood-Produkt nur selten zuvor provoziert hat. Die in verwirrender Folge aneinandergesetzten Einstellungen — originale schwarzweiße Fernsehbilder, hochaufgelöste Amateurfilmaufnahmen, im angegilbten Pseudodokumentarstil nachgedrehte Filmszenen — und die Zahl der im Film abgefeuerten Schüsse suggerieren nämlich, daß der Präsident am Dealey Plaza von drei Seiten unter Beschuß genommen wurde. Das Attentat, so die zentrale These des Films, war ein von langer Hand geplanter „coup d'etat“, an dem selbst höchste Regierungskreise beteiligt waren. Für diese Behauptung steht Regisseur Oliver Stone nun schon seit Monaten unter konstantem Beschuß einer ganzen Phalanx von Kritikern aus Presse und Politik.
„Die dreistündige Lüge eines intellektuellen Soziopathen“, so ein Filmkritiker über JFK. „Eine Entweihung der Erinnerung an Kennedy“, empörte sich Ex-Präsident Gerald Ford. „Ein kunstvolles Stück Propaganda“ urteilte die 'Washington Post‘, während 'Newsweek‘ in Stones virtuosem Pamphlet schlicht eine „Verdrehung der Geschichte“ sah: als handle es sich bei dem Attentat auf Kennedy um ein eindeutig geklärtes Stück der amerikanischen Vergangenheit.
Mehr als jedes andere Land braucht Amerika seine Mythen. Ihm fehlt ja, was andere Nationen ausmacht: seit langem fest umrissene Grenzen, historischer Zusammenhang und ethnische Homogenität. Manchmal erscheint es, als wäre Amerika selbst nur eine Collage aus Mythen: von Kolumbus über den Wilden Westen, Pearl Harbor, die kommunistische Bedrohung bis hin zu Kennedy. In all diesen Fällen wurden konkrete Ereignisse oder gemeinsame Erfahrungen zu Mythen verdichtet, die dann oft der Legitimierung ausgeübter oder der Überwindung erlittener Gewalt dienten.
So ist es denn auch gewiß kein Zufall, daß Hollywood im Westen Amerikas seine Heimat fand. An dieser äußersten Grenze der noch jungen Nation werden seit Beginn des Jahrhunderts jene Images und Illusionen produziert, aus denen sich Amerika selbst definiert. Mythen und Movies sind die Bausteine des amerikanischen Selbstverständnisses. Und nur noch mit Filmen, so scheint es, lassen sich seine Mythen heute noch erschüttern.
Keiner hat dies besser verstanden als der Regisseur Oliver Stone. Mit JFK, seiner neuesten Vierzig-Millionen-Dollar-Produktion über die Ermordung von Präsident Kennedy, hat sich Stone nun an einen der beständigsten und am wenigsten überzeugenden Mythen der amerikanischen Geschichte gewagt: daß nämlich der junge strahlende Präsident an jenem tragischen 22.November 1963 auf dem Dealey Plaza in Dallas von einem „lone gunman“ erschossen wurde. Und daß dieser Mörder, Lee Harvey Oswald, zwei Tage später auf der Polizeiwache in Dallas von einem ebenfalls ohne Hintermänner agierenden Psychopathen namens Jack Ruby vor laufenden Kameras niedergestreckt wurde.
So jedenfalls lautete das Fazit der Warren-Kommission, die, im Auftrag von Präsident Lyndon Johnson und unter der Leitung des Obersten Bundesrichters Earl Warren, im September 1964 ihren Bericht über den vermeintlichen Hergang des Kennedy-Attentats vorgelegt hatte: 26 Bände über einen „Einzeltäter“, der kein Motiv hatte. 26 Bände mit Lücken und Ungereimtheiten.
Oliver Stone glaubt dagegen — wie eine Mehrheit der US-Bürger übrigens — an eine Verschwörung. Genauer gesagt an zwei Verschwörungen: eine zur Ermordung Kennedys und eine zu deren Vertuschung. Und da für Stone der Mord an John F. Kennedy — persönlich wie politisch — ein so ungeheures wichtiges Ereignis, ja den Sündenfall Amerikas darstellt, scheint er zu seiner Erklärung auch eine ungeheuer weitreichende Verschwörung zu benötigen.
Diese lieferte ihm Jim Garrisons Buch On the Trail of the Assassins, 1988 (Auf den Spuren der Attentäter). Garrison war der Staatsanwalt (im Film gespielt von Kevin Costner), der 1967 in dem homosexuellen Geschäftsmann Clay Shaw und seinen Freunden aus der Unterwelt von New Orleans Mitwisser an der Verschwörung aufgespürt zu haben glaubte. Seine Anklage gegen Shaw wurde damals jedoch, nach zweijährigen Untersuchungen, nach dem mysteriösen Tod wichtiger Zeugen und 34 Prozeßtagen, von einer Jury verworfen. Obwohl der Richter nach seinen Worten selbst an eine Verschwörung glaubte; und obwohl die von Shaw vor Gericht bestrittene Tätigkeit für die CIA 1973 von der Spionagebehörde zugegeben wurde.
Garrisons/Stones Konspirationstheorie zufolge hatten sich die CIA, das FBI, die Sicherheitsdienste von Navy und Army, der militärisch-industrielle-Komplex mit Mafia, kubanischen Castro-Gegnern und erpreßbaren Charakteren aus der Schwulenszene von New Orleans zusammengetan, um den Präsidenten zu beseitigen. Denn Kennedy, so liefert Stone in JFK gleich mehrere Motive der vielschichtigen Mörderbande, sei im Begriff gewesen, die US-Truppen aus Vietnam zurückzuziehen, deren Präsenz er gerade verstärkt hatte, den Kalten Krieg mit der Sowjetunion zu beenden, die Beziehungen zu Castro zu verbessern und sich — mit seinem Bruder Robert als Justizminister — die Mafia vorzunehmen. Auch daran sind, wie an der Schlußfolgerung des Warren-Reports und der These des Garrison- Buchs, starke Zweifel erlaubt.
Doch mit der Theorie des Kennedy-Mordes als Staatsstreich hat der Vietnamkriegs-Veteran Stone endlich, was er in seinen Filmen (Platoon, Born on the 4th of July, The Doors) schon immer gesucht hatte: eine Erklärung für Vietnam, das „blutige Hemd der amerikanischen Politik“ (Stone), das auch er sich Ende der sechziger Jahre überstreifen mußte. Mit JFK hat Oliver Stone verfilmt, was er glauben will: daß es ohne die Ermordung Kennedys kein Vietnam gegeben hätte, keine Rassenunruhen, keine Spaltung der Gesellschaft, kein Watergate und keine Iran-Contra-Affäre.
Wenn Stone in seiner dreistündigen Tour de force über das Kennedy- Attentat gleich auch noch die Morde an Robert Kennedy und Martin Luther King von 1968 in seine Konspirationsthese mit aufnimmt, dann entspricht dies genau der Logik seiner Sixties-Generation, die seitdem dem zerstörten Traum ihres anderen Amerikas nachtrauert.
Eben weil diese drei Morde, weil es Watergate und die Iran-Contra- Affäre, ja vielleicht 1980 sogar eine „Oktober-Surprise“ zur Verhinderung einer Wiederwahl Jimmy Carters gegeben hat, scheint die These einer Verschwörung mit Regierungsbeteiligung gegen Kennedy heute längst nicht mehr so weit hergeholt, wie noch vor 28 Jahren. JFK liefert den neuen Kennedy-Mythos für all diejenigen, die in ihrem heutigen Zynismus noch ein gestriges Ideal brauchen.
Denn wie anders ließe sich Stones naive Beschreibung der tausend Tage unter John F. Kennedy erklären, des wohl überschätztesten US- Präsidenten aller Zeiten. Nicht unter Kennedy, sondern unter Lyndon B. Johnson konnte die Bürgerrechtsbewegung die Gleichberechtigung der Schwarzen durchsetzen. Selbst unter Richard Nixon wurden mehr Sozialprogramme für die Armen verabschiedet als unter Kennedy. Seinen Weg ins Weiße Haus bahnte sich der erste katholische Präsident der USA 1960 nicht zuletzt mit der Warnung vor einem imaginären „missile gap“ gegenüber der Sowjetunion. Im Amt befahl er, wie Ronald Reagan zwanzig Jahre später, die rascheste Aufrüstung der USA zu Friedenszeiten.
Ob seine Andeutungen von 1963, einen Rückzug der US-Militärberater aus Vietnam vorzubereiten, wirklich die Konversion eines Kalten Kriegers darstellte, wie Stone das im Film zitierte Memorandum zur Nationalen Sicherheit Nr.263 interpretiert, oder dies nur opportunistische Töne für seine liberalen Anhänger waren, ist ungeklärt. Selbst Lyndon B. Johnsons zynisch-voreingenommenes Kennedy-Bild scheint da der Realität näher, als Stones rosarote Zeichnung seines Helden.
Ohne eine Antwort auf Kennedys Tod, so schreibt heute Norman Mailer in 'Vanity Fair‘, habe Amerika seitdem zwischen zwei gleich unerquicklichen Seelenzuständen laviert: „zwischen Apathie und Paranoia“. Der Johnson-Administration und den ihr nachfolgenden Washingtoner Eliten war die Apathie mit der Akzeptanz eines einsamen Heckenschützen nur recht. Die gelegentlichen Anfälle von Paranoia mit ihrer beinahe subversiven Qualität — Garrisons Anklage etwa oder die Untersuchungskommission des Repräsentantenhauses, die 1973 noch eine Verschwörung für „wahrscheinlich“ hielt, ehe ihr das Geld ausging — konnten immer wieder erfolgreich unterdrückt werden.
Und auch Oliver Stones JFK-Projekt schien schon zum Scheitern bestimmt, als in den medialen Organen des Establishments noch vor Fertigstellung des Drehbuches die ersten Angriffe auf den Regisseur erschienen. Rechte Kritiker warfen Stone die mutwillige Verwischung von Fakten und Fiktion vor, ein Vorwurf, den sie sonst weder gegen Shakespeares Historiendramen erheben noch gegen die gerade über den Bildschirm laufende „Originalgeschichte“, des Golfkrieges, die auf Aussagen von Mitgliedern der Bush- Administration beruhen. Mitglieder der Warren-Kommission verteidigten ihre mindestens ebenso fragwürdige Version der Ereignisse, als rüttle JFK mit seiner Konspirations- These an den Fundamenten der US- Gesellschaft. Selbst liberale Kolumnisten bezichtigten den Regisseur, in einer Zeit des generellen Mißtrauens gegenüber den staatlichen Institutionen „einen zweifelhaften öffentlichen Beitrag“ geleistet zu haben.
Die Warner Brothers haben den Film mit einem Werbeetat von 15 Millionen Dollar gepuscht, fünfzig Millionen Amerikaner, so die Schätzung, werden den Film nach der Video-Auswertung gesehen haben. Die wirklichen Opfer des Films, so ein immer wieder geäußerter Vorwurf, seien die jugendlichen Kinobesucher, die ohne eigene Erfahrung des Ereignisses der als Simulation getarnten Spekulation des populären Filmemachers hilflos ausgeliefert seien: Daß diese Jugend der in ihren Schulbüchern kritiklos übernommenen These der Warren-Kommission bisher ebenso ausgeliefert waren, scheint dagegen bisher niemanden gestört zu haben.
Am Ende bedurfte es eines Überzeugungstäters wie Oliver Stone, der sich dazu noch des richtigen Mediums zu bedienen wußte, um den Umgang mit dem ungeklärten Mord an Kennedy noch einmal zur Diskussion zu stellen. Hätte Stone ein Buch geschrieben oder einen gewissenhaften und ehrlichen Dokumentarfilm über Kennedys Ermordung gedreht, es wäre nie zu den jetzt erhobenen Forderungen nach einer vorzeitigen Freigabe der bis zum Jahre 2029 unter Verschluß zu haltenden Dokumente des Repräsentantenhauses und der Sicherheitsdienste gekommen. Oder wie Norman Mailer schreibt: „Manchmal kann bullshit nur mit besserem bullshit bekämpft werden.“ JFK mag nicht die Wahrheit, wohl aber die überzeugendere Metapher für dieses Amerika bieten.
Indem Stone Hollywoods Mythenfabrik als Vehikel benutzt, um den Kennedy-Mord noch einmal zu einem Politikum zu machen, zahlt er allerdings einen Preis: den eines neuen Mythos. So wird aus dem „lone gunman“ ein einziger Präsident, der allein Amerika noch vor dem zynischen Zeitalter hätte bewahren können.
Oliver Stone: JFK. Mit Kevin Costner, Sissy Spacek, Gary Oldman u.a.. USA 1991, ca. 160 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen