: „Lemgo, Lemgo“
■ Der VfL Fredenbeck erreichte in der Handball-Bundesliga ein 20:20 beim gefürchteten TBV Lemgo
Lemgo (taz) — „Ich bin sehr enttäuscht“, preßte Lajos Mocsai heraus. 20:20 hatte seine Mannschaft, der TBV Lemgo, gegen den VfL Fredenbeck verloren, denn sein Kollege Zenon Lakomy ordnete das Remis glatt als einen „Sieg“ ein.
Mocsais Bürde ist schwer: Nicht nur, daß der aus Ungarn stammende Erfolgstrainer — 1986 coachte er die Magyaren zum Vizeweltmeistertitel, zwei Jahre darauf wurde er mit ihnen Olympiavierter — an sich selbst hohe Ansprüche stellt, auch die Wünsche seiner Arbeitgeber machen seinen Job nicht leichter: Mit aller Kraft soll dem Landstrich zu Ruhm verholfen werden.
Denn was ist schon Lemgo? Knapp 40.000 Einwohner, eine Fachhochschule, einige Museen von örtlicher Bedeutung und etwas Industrie. Lemgo, im Zentrum des einstigen Fürstentums Lippe gelegen, ist so aufregend wie Hannover, nur kleiner. Aber die Handballer, sie sind die Schmuckstücke der Region. 2.200 Zuschauer kommen zu den Heimspielen, man gibt sich als geschlossene Gesellschaft, Lemgo hat den TBV per Dauerkarte in Besitz genommen: „Lemgo, Lemgo“, rufen die Fans, die sich in einem Club zusammengeschlossen haben, wenn ihre Mannen aufs gegnerische Tor vorpreschen, immer nur: „Lemgo, Lemgo“, zwei Worte als ein Amalgam für die geraubte fürstliche Identität. Der Vereinsvorstand hat mehrmals schon vorgeschlagen, bei Spitzenspielen ins größere Bielefeld auszuweichen, aber das, so empört die Anhänger des Vereins, wäre eine Kapitulation vor der größten Stadt im Revier. Also bleibt man in Lemgo, der Stadt ohne Autobahnabfahrt.
Pech nur für die Jungs um den früheren DDR-Nationaltorhüter Lutz Grosser, daß ihr Gegner von Sonnabend, Spitzenreiter VfL Fredenbeck, keine Angst vor der unmittelbar an den Seitenlinien sitzenden Meute hat. Zuhause hat man schließlich selbst frenetisches Volk sitzen, das kennt man, das gehört für die Mannen um Zbigniew Tluczynski zur gewöhnlichen Lärmkulisse eines Bundesligaspiels.
Zur Halbzeit noch schaute Lemgos Coach Mocsai zufrieden aus, 9:10 nur lagen seine Spieler zurück. Zwölfmal zuvor blieb sein Team unbesiegt, mindestens ein Unentschieden sprang jedesmal heraus. Im Kampf um den Einzug in die Play- off-Runde hat der TBV alle Chancen, nur ein Sieg gegen Fredenbeck war Pflicht. Eine straffe 6:0-Deckung, dazu ein quirliger Rückraumspieler wie Volker Zerbe — das sollte reichen. Und 20:16 führten die Lippischen auch schon. „Schritt für Schritt hatten wir gewonnen“, sagte Mocsai später. Doch dann kam Kollege Lakomy auf die pfiffige Idee, Volker Zerbe und Torjäger Laszlo Marosi in direkte Manndeckung zu nehmen — eine Übung, die optisch ans Catchen erinnerte und sportlich dazu führte, daß die nervenstarken Fredenbecker noch den Lemgoer Vorsprung einholten.
Der Star des VfL, „Binjo“ Tluczynski, Expertenmeinungen zufolge einer der vier besten Handballer der Welt, zirkelte schließlich vier Sekunden vor der Schlußsirene den Ball mit einem Wurf in 30 Zentimeter Höhe ins Tor Lutz Grossers. Die 40 mitgereisten Fredenbecker jubelten und herzten ihre teils blutbefleckten Helden, die immer noch Tabellenführer sind.
Lajos Mocsai hatte derweil endgültig hektische Flecken im Gesicht. Bis 1995 hat er gerade seinen Vertrag mit dem Verein verlängert. Zu erwarten steht, daß er seinen Jungs die Unart, immer in den letzten sechs Minuten abzuschlaffen, austreiben wird. Jan Feddersen
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