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Ruhe vor dem Sturm

Die Eurokratie holt Atem für die in diesem Jahr anstehenden Debatten  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

Das Berlayemont-Gebäude liegt nahezu verwaist. Das asbestverseuchte ehemalige EG-Hauptquartier soll renoviert werden. Aber auch in der neuen, nur einen Steinwurf entfernten Zentrale herrscht ungewöhnliche Ruhe. Nach Umzugschaos und Maastrichter Gipfel letzten Dezember scheint die Eurokratie nun Atem zu holen. Nichts deutet daraufhin, daß das Jahr begonnen hat, an dessen Ende der tausendfach beschworene EG- Binnenmarkt aus der Taufe gehoben werden soll.

1992 steht jedoch unter keinem guten Stern. Sturmfluten und Hungersnöte prophezeit der chinesische Kalender, wenn im Frühling das Jahr des Affen beginnt. Auch der EG-Kalender birgt allerhand Gefahren. Der Abbau der EG-internen Grenzen könnte sich noch hinauszögern, weil wichtige Entscheidungen, beispielsweise bei der Steuerangleichung, ausstehen.

Schwierigkeiten bereitet auch die Ökonomie. Der erwartete Wirtschaftsaufschwung scheint schon zu Ende, bevor der eigens dafür erdachte Binnenmarkt überhaupt eingerichtet ist. Konsequenz: Anstelle der erhofften Prosperität wächst die Arbeitslosigkeit. 50 Millionen Menschen sind offiziell als arm eingestuft. Als Folge der Rezession werden auch die Verteilungskämpfe zwischen den armen und reichen Mitgliedsländern zunehmen. Ein EG-weiter Finanzausgleich zwischen Nord und Süd soll dieses Jahr ausgehandelt werden.

Im Gefolge der weltweiten Rezession wachsen die internationalen Spannungen. Die Beziehungen zwischen der EG und den USA sollen nach dem GUS-Gipfel auf einem neuen Tiefstand angekommen sein. Die Debatte über Hilfeleistungen für die ehemaligen sowjetischen Staaten wird auch dazu benutzt, sich an Kohl und Genscher zu rächen, weil sie sich in der Anerkennungsfrage der jugoslawischen Republiken vordrängten. Wie die EG unter diesen Vorzeichen gemeinsame Vorstellungen über ihre Ausweitung entwickeln soll? Die Beitrittsverhandlungen mit Österreich und Schweden sollen in diesem Jahr noch begonnen werden, ungeachtet des Ende letzten Jahres zwar beschlossenen, vom Europäischen Gerichtshof aber angefochtenen Abkommens über einen Europäischen Wirtschaftsraum. Die für Ende 92 geplante gigantischen Freihandelszone wird so immer mehr zur bloßen Makulatur.

Ein ähnliches Schicksal könnten die im Dezember beschlossenen Abkommen über eine Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) einschließlich politischer Union ereilen. Sie müssen dieses Jahr von den zwölf Parlamenten ratifiziert werden. Die Hohen Häuser Italiens, Belgiens und der BRD hatten gedroht, sich zu verweigern, falls dem Europaparlament nicht mehr Mitbestimmungsrechte im EG-Gesetzgebungsprozeß eingeräumt werden. Da dies kaum geschehen ist, wären die Abgeordneten dieser Länder eigentlich dazu verpflichtet, ihre Drohung wahr zu machen.

Daß es dazu nicht kommt, dafür wird EG-Chef Delors höchstpersönlich sorgen. Seine wirksamste Waffe ist die Drohung, nicht mehr als Kandidat zur Verfügung zu stehen, wenn Ende des Jahres der Präsident der EG-Kommission neu gewählt werden muß. Sein Programm: 1992 bereite keine Probleme mehr. Entscheidend sei vielmehr 1994. Dann ist der Übergang in die zweite Stufe der WWU geplant. Dann werden auch die Europawahlen stattfinden. Und schließlich will Delors sein Konzept eines föderalen europäischen Bundesstaates zur Entscheidungsreife gebracht haben. — Fazit: Die Ruhe im EG-Hauptquartier täuscht. Berufseuropäer Delors hält seinen Apparat weiter auf Trab, obwohl oder gerade weil um ihn herum das Europa von 1919 fröhliche Urständ feiert.

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