Die Wortlosigkeit in den Alpen

■ Heute wird der Bremer Literaturpreis an einen Richtigen ausgehändigt / Über Ror Wolfs „Nachrichten aus der bewohnten Welt“

Mann mit Bart

Ror Wolf Foto: Abisag Tüllmann

Es dauerte gar nicht lange, schon lief ich über die Straßen Manhattans, wo mich ein Auto erfaßte und in die Höhe warf. Bisher ist alles vorübergegangen, dachte ich, als ich so durch die Luft flog; also wird wohl auch das vorübergehen.

Alles rennet, rettet, stürzt und fliegt und fällt; Meyerheims Untersuchungen verlaufen unbefriedigend, Autobusse verdampfen — und ich möchte behaupten, daß es selten etwas von größerer Folgenlosigkeit gegeben hat als das, was Sie auf diesen Seiten erfahren werden.

Und selten, wertes Publikum, hat es etwas von größerer Komik gegeben als die Ruhe, welche diese Sprache wahrt selbst angesichts von Zuständen: Man schoß auf uns, wie es damals üblich war. Ich kam aber mit dem Leben davon.

Ror Wolf hat mit seiner Sammlung vollends abstruser Ge

schichten, genannt Nachrichten aus der bewohnten Welt, die bewohnte Welt nahezu überflüssig gemacht: mehr Unheil bringt selbst sie in zwei Tagen nicht hervor, als Wolf, der alte Hase, mit zwei Sätzen, zick und zack, überspringt. Schneller, lustiger kommt man durch keine Misere, kürzer geht kein Weg zum Gelächter; man möcht eh schon kreischen vor Bange, daß einem der Autor, nach all der Verknappung, auch noch den Atem benimmt; daß man den Kürzestgeschichten nachstürzt: In jedem Text sind ja schon zahllose andere verschluckt, man hört sie noch rufen. Jetzt denken Sie, was Sie wollen; es wird Ihnen nicht besser ergehen.

Ror Wolf, geboren 1932 im thüringischen Saalfeld, jetzt wohnhaft in Mainz, hätte schon viel früher noch ganz andere Literaturpreise verdient als den bremischen, den er jetzt kriegt: Solche Autoren, so man sie hat, soll man allenthalben mit Würsten bekränzen und in die Luft werfen, daß ihnen das Schreiben nicht vergehe! Heute mittag im Rathaus also erhält Wolf immerhin eine Laudatio und 30.000 Mark von der Rudolf-Alexander-Schröder- Stiftung ausgehändigt, deren Jury sich damit endlich wieder, statt ins Blaue zu tapsen, ins Schwärzeste traut.

Gerade als ich die Erde verließ, um mit einer gefährlichen Drehung zurück zum Klavier zu fliegen und mit dem zweiten Satz der Sonate fortefortissimo zu beginnen, sah ich, wie eine der Damen der anderen einen entscheidenden Fausthieb versetzte. Als ich später erneut nach unten sah, war der Vorgang beendet.

Kennen Sie die mathematische Katastrophentheorie? Eine Methode, sich ganz ungerührt mit Kurven abzugeben, die brechen, mit Gleichungen, die sich verschlingen, mit verrenkten Parabeln. Manchmal ist es, als würde Wolf nur Diagramme der Katastrophentheorie ausformulieren: Was für Geschichten! Über Gambas Theater, wo sich (Gott, was braucht man schon!) Bühne, Licht, Musik, ja auch das Publikum letzten Endes hinweg erübrigen, bis auf die einzig unvermeidliche Dunkelheit (falls Sie das interessiert: in der Ortsmitte von Schull),... und trotz der Einfachheit dieser Handlung ist der erzielte Effekt bedeutend. Oder nehmen Sie nur Die Wortlosigkeit in den Alpen oder aber Einige Gründe, den Kopf hängen zu lassen: das sind Texte, getrieben nur von Logik und Laune der Sprache, getrieben oftmals in ihre eigene Konsequenz — wenn da einer am Ende auch noch seine Vergeßlichkeit vergißt.

In allem Trubel aber verrät die Sprache, tiptop bis zum Kragenknopf, keinerlei Bewegung: die Sätze sind zum Schreien korrekt, quasi sprachnotariell beglaubigt; und doch ist, wegen Wolfs großer Kunst, nirgendwo Boden, worauf man seine Füße stellen kann; ist jedes Wort geduckt, bereit zu einer Wendung, die aber keinesfalls eintritt, es sei denn an ganz anderm Ort: In diesem Moment verlor ich den Überblick.

Es dauert nur ein paar Seiten, dann ist man auf alles gefaßt: der Wolf stellt Geschichten auf die Beine, nur um sie ihnen auszurenken. Jeder Satz ist womöglich eine Falle; jeder Satz lockt einen womöglich in andere Geschichten, die aber nicht stattfinden. Wolf ist der verläßlichste Führer in jede beliebige Irre; man will ja kaum mehr zurück. Ja, freilich: Ich persönlich habe den Eindruck, daß ich die Wahrheit sage.

Wenn er es nur vermeiden möchte, gemäß einem alten Ritual mit dem Papier zu rascheln, auf dem er schreibt! In den Sechzigern war es Pflicht, in jeder Geschichte zu gestehen, daß sie auch einen beliebig andern Lauf nehmen könnte, und überhaupt möglichst oft vom Schreiben zu sprechen. Wolf wird manchmal rückfällig; ich halte das für entbehrliches Werkstattgetue: als müßte der Schreiber, wo es doch nun alle wissen, mit dieser Stechuhr seinen Dienstantritt stempeln (Kollege Wolf? „Bei der Arbeit!“).

Aber solche Kleinigkeiten wollen wir gleich wieder vergessen, denn im letzten, nun einem großen Text (der dem Buch den Titel gegeben hat), gibt uns Wolf den Rest, den vorherige Apokalyptiker noch nicht publiziert haben: erst dereinst, wenn Johannes, Dante und Hieronymus Bosch auferstehen und zusammen einen Katastrophenfilm machen, wird es wieder zu solchen Unmassen davonfließender Häuser, brüllender Tiere und kochender Wasser kommen. Wunderbar, wie es endet. Manfred Dworschak

Ror Wolf, Nachrichten aus der bewohnten Welt; Frankfurter Verlagsanstalt 1991