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Wo immer Er ist

Ein „Brief an Rushdie“  ■ Von José Saramago

Lieber

Salman Rushdie:

So manches Mal in diesen drei langen Jahren, die sie sich schon versteckt halten vor denen, die Sie töten wollen, mußte ich daran denken, daß Sie, im Gegensatz zu den Mönchen, die sich von der Welt zurückziehen, um Gott näher zu sein, die Welt verlassen mußten, um vor Gott zu fliehen. Gerade im Namen Gottes haben die Menschen Sie verurteilt, aber, nachdem so viel Zeit verstrichen ist, ohne daß Er (ich benütze den traditionellen Großbuchstaben) sein Einverständnis mit diesem Urteilsspruch manifestiert, viel weniger noch ein Zeichen gegeben hätte, daß Er selbst es mit seinen eigenen Händen zu vollstrecken gedenkt (ist Er doch der Allmächtige), gestatte ich mir, allmählich daran zu zweifeln, ob Gott wirklich etwas mit dieser Sache zu tun hat.

Erstens wäre ein Gott, der zustimmt, daß dem launenhaften Belieben von Menschen die Vollstreckung von Urteilen überlassen bleibt, die Er nicht ausgesprochen hat, unter dem Vorwand, sie seien zu Seiner Verteidigung erlassen worden, ein solcher Gott also wäre nicht mehr nur verantwortungslos, sondern absurd; dabei ist Gott doch per definitionem und folgerichtig das höchstverantwortliche aller Wesen (wenn wir ihn so einordnen wollen), die das Universum bevölkern. Da Gott zweitens wegen sprachlicher und sonstiger Verständigungsschwierigkeiten dieses Urteil weder durch seine Unterschrift ratifizieren noch selbst mit vernehmlicher Stimme diese Verdammung gegen Sie ausrufen konnte, haben wir es eindeutig und schlichtweg mit einem Verbrechen von Menschen gegen Menschen zu tun, gleich all jenen Verbrechen, die in seinem Namen in der Vergangenheit begangen wurden und sicher auch in Zukunft noch begangen werden.

Ihr Übertritt zum Islam, lieber Rushdie, wenn Sie mir diese Offenheit erlauben, war nutzlos, so nutzlos wie ehemals der Widerruf des Galileo, da doch Gott, wo immer Er ist, keine Kenntnis nimmt von den unbedeutenden Begebenheiten unter uns Menschen, obgleich wir, weil seine Identität mit so verschiedenen Angaben von Namen und Zahl und anderen Attributen benannt wird, zu Millionen auf dieser Welt hier unten gestorben sind.

Sie werden bemerkt haben, daß ich bisher, wobei ich es nun auf diese Weise tue, noch nicht angespielt habe auf die üblichen, allzu bekannten Themen wie Gedanken- und Meinungsfreiheit, die heilige Achtung vor dem Leben, Güte und Toleranz, Vergebung von übler Nachrede und das Verzeihen von Missetaten, auf Themen wie Verantwortung und Schuld und darauf schließlich, daß wir uns all dessen mehr oder weniger bewußt sind, nicht zu vergessen die gesellschaftliche Notwendigkeit einiger allgemeiner ethischer Werte, die es nicht nur dank einer bestimmten Obrigkeit gibt, sei sie nun himmlisch oder irdischer Natur.

Ich vermute, lieber Rushdie, daß Sie es schon leid sind, derartige Reden zu lesen oder zu hören, und deshalb werde ich Ihnen eine kleine volkstümliche Geschichte erzählen, eine kurze, erbauliche Fabel aus meiner Kindheit, die ich in all diesen Jahren im Gedächtnis behalten habe. Ich hätte nicht gedacht, daß ich sie eines Tages verwenden könnte und obendrein zu einem so ernsten, unerwarteten Anlaß wie diesem, in einem Brief an Sie, der, da es ein offener Brief ist, von jedem gelesen werden kann, und nur Gott weiß, wie mich die Leser beurteilen werden, die ihrerseits andere Vorstellungen davon haben mögen, wie man seine Achtung angesichts einer Situation wie der Ihren zum Ausdruck bringt.

Aber kommen wir zu der Geschichte (aus Geschichten ist das Brot gemacht, das wir essen), und die bösen Zungen sollen schweigen. Es war einmal ein Mann, der jeden Tag seine Frau schlug. Sie konnte noch so umsichtig sein, sich noch so unterwürfig geben, ihm in allem gehorchen, ihm all seine Wünsche von den Augen ablesen, nie die Stimme heben, nicht einmal um zu sagen, „das ist mein Mund“, ihr Mann fand doch immer einen Anlaß, um, wie wir sagen, ihr das Fell zu gerben. Einmal jedoch war die arme Frau so vorsichtig gewesen, hatte ihre Umsicht derart weit getrieben, daß der Mann die Stunde nahen sah, in der sie zu Bett gehen würde, ohne daß er ihr die tägliche Strafe verabreicht hatte.

Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, lieber Rushdie, daß sich dies in einem Dorf auf dem Land zutrug, und daß es im Sommer war und heiß. Unser Mann hatte sich so daran gewöhnt, Anlässe zu finden, wenn Gründe fehlten, daß er sogleich einen Ausweg fand. Er sagte zu seiner Frau: „Es ist sehr heiß, es wäre besser, wenn wir hinter dem Haus im Freien schliefen.“ Die Frau ließ sich nicht zweimal bitten, und im Handumdrehen hatte sie das Bett im kleinen Garten gerichtet, und schön war es dort unter dem wunderbaren Baldachin voller Sterne, die ganze prachtvolle Milchstraße.

Der Mann legte sich hin, die Frau legte sich hin, verwundert, daß sie einen Tag ohne Schläge verbracht hatte, als ihr Mann sie plötzlich fragte: „Frau, was ist das?“ Und sie mit aller Unschuld dieser Welt: „Was denn?“ Und er: „Diese ganzen Sterne am Himmel, von einem Ende zum anderen.“ „Aber Mann, weißt du denn nicht, daß das die Straße von Santiago ist.“ Straße von Santiago nennen wir in diesen iberischen und so überaus christlichen Breiten die Milchstraße. Kaum hatte sie dies ausgesprochen, rief der Mann: „Aha, du Luder, da hast du mir also das Bett unter der Straße gerichtet und setzt mich der Gefahr aus, daß ein Auto auf mich herunterfallen kann?“ Kaum hatte er dies gesagt, verabreichte er ihr erbarmungslos die Tracht Prügel, der sie beinahe entkommen wäre.

Die Moral dieser Geschichte brauche ich Ihnen, lieber Rushdie, nicht zu erklären. Vor zehn Jahren schrieb ich in einem Roman, der noch im Umlauf ist: „Wenn das Heilige Offizium es so will, sind alle guten Gründe schlecht und alle schlechten Gründe gut, und wenn es an diesen oder jenen mangelt, dann gibt es die Qualen von Wasser und Feuer, von Folterbock und Foltergalgen, um sie aus dem Nichts und der Verschwiegenheit hervorzulocken.“ So ist das. Wir waren nie in Gottes Hand, aber in der Hand der Macht sind wir immer.

Ich weiß nicht, ob wir uns eines Tages begegnen werden oder ob Sie zu ewiger Abgeschiedenheit verdammt sind. Sowohl die sogenannte internationale Gemeinschaft als auch die Meinung, die wir für öffentlich halten, denen Sie im Grunde die ganze Zeit nur lästig sind, weil Sie noch leben, tun ihr Möglichstes, um Sie zu vergessen und machen sich derweil Sorgen um die Widrigkeiten auf unserem Planeten und wie Abhilfe zu schaffen sei. Nur ungern denke ich daran, Ihnen vielleicht in einem Jahr wieder einen Brief schreiben zu müssen, aber ich fürchte, so wird es sein, denn so umfassend ist die Verrücktheit dieser beschissenen Welt, in der wir leben.

Ich umarme Sie

José Saramago

José Saramago, geboren 1922, ist einer der bekanntesten Schriftsteller Portugals. Seine Werke sind in 25 Sprachen übersetzt.

Mit seinem im November 1991 in Portugal (und gleichzeitig in Brasilien) erschienenen Roman Das Evangelium nach Jesus Christus hat er großes Aufsehen erregt — bisher gibt es drei Auflagen — und heftige Diskussionen über die Rolle der Religion und der Institution Kirche ausgelöst.

Der Autor stellt in dieser sehr irdischen Lebensgeschichte von Jesus Christus einen Gott in Frage, in dessen Namen unzählige Kriege geführt wurden und der um seinetwillen unermeßliches Blutvergießen geschehen ließ und geschehen läßt.

In deutscher Übersetzung liegen von Saramago folgende Romane vor (alle bei Rowohlt):

Handbuch der Malerei und Kalligraphie (1990), Hoffnung im Alentejo(1987), Memorial (1986), Das Todesjahr des Ricardo Reis (1988) Das steinerne Floß (1990). Die Geschichte von der Belagerung Lissabonserscheint auf deutsch im Herbst 1992.

(A.d.Ü.)

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