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Gravitationslos dahinfliegen

■ Das Arditti-Quartett mit Musik von John Cage bei den Inventionen 92

Das Arditti-Quartett darf heutzutage — Flugzeuge machen's möglich — bei keinem Neue-Musik-Festival mehr fehlen. So quirlt dieser absolute First-Class- Klangkörper durch sämtliche Programme von China bis zur amerikanischen Ostküste. Anekdoten sagen ihm bereits nach, daß neu zu probende Stücke — wo sonst — im Flugzeug einstudiert werden.

Mit John Cages Musik ist es nicht anders — ohne sie wäre ein Festival zeitgenössischer Musik vermutlich wie ein Symphonieorchester ohne Beethoven. Die Berliner Inventionen 92 haben sich aber für ihr Programm einige Rosinen rausgepickt.

Eine davon war eben das Arditti- Quartett am Mittwoch abend in der Kammerphilharmonie mit einem reinen Cage-Programm. Zwei neuere Kompositionen umgaben das String Quartet in Four Parts aus dem Jahre 1950. Alle vier Streicher spielen das Stück mit vibratolosem Ton, lieben vielerlei Flageolets und diverse Sul- ponticello- oder Sulla-tastiera- Strichweisen. So wird der Klang transzendent und leicht, was durch vertrackte Phrasen-Wiederholungen noch unterstützt wird. Wahrscheinlich hat sich hier Morton Feldman zu seiner Musik inspirieren lassen und sich dann abgenabelt.

Die beiden anderen Stücke ähneln diesem letztgenannten in ihren Pianissimo-Klangwelten, sind aber durch ihre variablen Konstellationen noch durchatmeter, noch transparenter. Zudem splittet das Quartett das erste StückMusic for Four noch im Raum auf, was jeglichen homogenen Ensembleklang verhindert, die Töne noch einzelner, purer macht.

Fast ist es, als hätte Cage einen Bogen geschlagen zu seiner alten Klangwelt. Doch solche Fragen werden noch Heere von Musikwissenschaftlern beschäftigen. Das Publikum jedenfalls hat ihn längst zu lieben begonnen, und sein Ruf als Enfant terrible ist entschwirrt.

Anfang der Sechziger hatte Stockhausen — wer sonst? — bereits formuliert: »Ist Cage denn wirklich so extrem? Ich finde ihn überhaupt nicht extrem. Eine Extremität mißt man doch wohl durch den Abstand, den sie von irgendeinem Zentrum, zum Beispiel vom Körper, hat. Wenn man Cages Arbeit an der bisherigen europäischen Musik und ihren Gebräuchen mißt, mag es allenfalls angehen. Cage aber hat überhaupt keinen Abstand von irgendeiner Musik. Er fliegt in einem Raum ohne Gravitation, ihn hält nichts zurück: er ist der erste Amerikaner, der aus seiner Traditionslosigkeit keinen Hehl macht.«

Wenn das stimmt — ist es eine hübsche Traditionslosigkeit und schön, Cage gravitationslos dahinfliegen zu sehen. Die Ardittis flogen gekonnt mit. Nur das kräftig beifallspendende Publikum mag sie wieder auf den Boden geholt haben. Marc Maier

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