: Kazuo Ishiguro:
■ Ein „Brief an Rushdie“
Lieber Mr. Rushdie,
als ich neulich im Zug von Schottland nach London zurückfuhr, stieß ich am Bahnhofskiosk auf einen Ihrer Romane, Die satanischen Verse, und kaufte ihn, um ihn auf der langen Zugfahrt zu lesen. Bald war ich völlig darin versunken — die Reise ging schnell vorüber —, und als ich zu Hause ankam, habe ich ihn in einem Zuge zu Ende gelesen.
Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich diese Gelegenheit dazu benutze, Ihnen zu sagen, wie gerne ich den Roman gelesen habe und welchen tiefen Eindruck er auf mich gemacht hat.
Die Sehnsucht nach Liebe, die widerstreitenden Kräfte in einem Menschen, der seine Ursprünge zugleich annimmt und zurückweist, die Suche nach moralischen Verbindlichkeiten in einer chaotischen, sich ständig verändernden Welt — ich fand all diese Dinge durch die vielen verschiedenen Charaktere ihres Romans ganz wunderbar ausgedrückt. Und ich bin sicher nicht der erste, der im Herzen des Romans, in all dem Überschwang und Tumult, eine tiefe Einsamkeit spürte — jene Art Einsamkeit, wie man sie inmitten vieler Menschen erfährt. Da auch ich mich in einem fremden Land niedergelassen habe, konnte ich mich mit den Gefühlen vieler Ihrer Romanfiguren identifizieren. Aber ich bin in Japan geboren und nicht vertraut mit den besonderen Emotionen, die sich aus der Kolonialbeziehung zwischen England und Indien herleiten; es ist bewegend, wie Sie den Kampf Ihrer indischen Romanfiguren um ein Selbstverständnis darstellen, es hat mich zu einer Einsicht und Sympathie geführt, für die ich früher gar nicht die nötigen Kenntnisse hatte.
Ich habe mit einem guten Freund— einem Chinesen, der heute in Kanada lebt — lange Gespräche über seine gemischten Gefühle gegenüber seiner „Heimat“ und Kultur geführt. Mir fiel seine Beziehung zu seinem Vater ein, während ich das getrübte Verhältnis zwischen Saladin und seinem Vater in der Mitte Ihres Buches verfolgte. Ich bin sicher, mein Freund wäre von diesem Porträt sehr berührt, und ich würde ihm ohne zu zögern eine Ausgabe Ihres Romans schicken — aber sein Vater ist schwer erkrankt, und ich fürchte, daß die außerordentlich bewegende Sterbeszene am Ende des Romans zu aufwühlend ist. Deshalb werde ich ihm das Buch im Moment besser doch nicht schicken. In diesen Zeiten unruhiger Wanderungen und der „Multikultur“ aber muß es unzählige andere Leser auf der ganzen Welt geben, die in Ihrem Buch ein würdiges Porträt ihrer Hoffnungen und Traurigkeit entdecken werden.
Ich muß gestehen, daß ich bis vor jener Zugreise in der letzten Woche noch keines Ihrer Werke gelesen hatte, aber nun werde ich sicherlich all Ihre anderen Bücher ausfindig machen. Es wird mich interessieren zu erfahren, ob sie sich ebenfalls mit den Themen kultureller Identität und der Sehnsucht nach Liebe beschäftigen. Und ich werde mit großem Interesse auch Ihre zukünftigen Romane erwarten.
Ich bin selbst Schriftsteller, und sollten Sie einmal in meinen Teil Londons kommen, würde ich mich sehr freuen, Sie zu treffen und mit Ihnen zu plaudern — vielleicht bei einem Bier oder einem Kaffee. (In meinem Viertel gibt es eine Menge netter Cafés, die Ihnen gefallen würden.) Aber ich nehme an, Sie sind sehr beschäftigt, so daß ich keine allzugroßen Hoffnungen hege. Ich wollte Ihnen nur danken für das Erlebnis der Satanischen Verse. Es mag ein Klischee sein, doch es ist wahr: Durch Romane wie diesen habe ich ein bißchen mehr darüber gelernt, was es heißt, Mensch zu sein.
Herzliche Grüße
Kazuo Ishiguro, London
Aus dem Englischen von
Barbara Häusler
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