: Abgrundtief aus Männerkehlen
■ Historische Aufführungspraxis in der Sophienkirche
Requiem aeternam...«, steigt es abgrundtief aus Männerkehlen auf zur Decke der Sophienkirche. Klaus Eichhorn leitet vom Orgelpositiv aus mit heftigem Blickkontakt seinen Kammerchor »Capella Cantorum«, das Instrumentalensemble »Recréations musicales« sowie die Solisten. Es ist Sonntag abend, und ich lausche dem Anfang der Missa pro defunctis von Johann Caspar Kerll. Derselbe Meßtext wird an diesem Abend, unterbrochen nur von einem kürzeren Lamento für Streicher von Johann Heinrich Schmelzer, noch ein zweites Mal geboten werden — in einer Vertonung von Heinrich Ignaz Franz Biber.
Zwei Requiems in einem Konzert hatte ich bislang noch nicht gehört. Musiziert wurde mit dem Bemühen um historische Aufführungspraxis, was sich z.B. in einer ausschließlich männlichen Besetzung von Gesangspartien niederschlug. Countertenöre und Knaben wie zu Kerlls Zeiten.
Der angenehmste Effekt dieser Bemühung war auch hier die Behandlung der einzelnen Linie und — daraus resultierend — der homogene und doch sehr differenzierte Gesamtklang. Die einzelnen Töne wurden nicht auf permanentmaximale Intensität getrimmt, sie konnten auch entspannen, zurückweichen, lässig sein. Jeder Klang, jede Phrase gewann damit an Plastizität, ließ durch ihre Nachgiebigkeit anderen Stimmen Platz.
An einigen Stellen mißlang dieses Nachgeben allerdings auch, führte zu Klanglöchern — wenn zu stark oder zu schnell entspannt wurde. Die Einzel- oder auch die Gesamtlinie brach dann ab, wurde nicht mehr zu ihrem Ruhepunkt zurückgeführt und unverständlich. Hinzu kam eine Schwierigkeit, die besonders bei der Missa von Kerll ausgeprägt war: die Kleingliedrigkeit. Zahlreiche kurze Abschnitte, unterschiedlich in Metrum, Tempo, Gestus, auch in der Besetzung, sorgten zwar für Abwechslung (und forderten von den Interpreten ein Höchstmaß an Präsenz), verhinderten manchmal jedoch auch das Entstehen eines größeren Spannungsbogens. Da die vielen kleinen Schlüsse durch langsames, fast schon wollüstiges Auskosten der Schlußklänge und akzentuiertes Neuansetzen noch betont wurden, zerfiel die Komposition an einigen Stellen in schöne Einzelmomente.
Trotzdem lohnt die Musik die Mühe. Vielleicht ist es ihre Stellung »dazwischen«: — nicht nur rein vokal, noch nicht ausgeprägt symphonisch, mit zaghaften Versuchen, das Orchester eigenständig neben den Singstimmen zu behandeln — die ihr diesen Reiz verleiht. Vielleicht ist es aber gerade die Tatsache, daß sie von unseren Schablonen noch nichts weiß und einfach schön und reich ist: Kerll eher schlicht und innig, Biber effektvoller (etwa, wenn im Osanna innerhalb weniger Takte über fünfzigmal »excelsis« auszusprechen ist und die Zischlaute durch den Chor wirbeln), eingängiger, aber auch anrührender. Gut plaziert auch Schmelzers Lamento. Wie reizvoll nichttemperierte Stimmung sein kann, machte gerade dieses Stück meinen danach dekomponierten Ohren klar. Ohne das Intermezzo wären sich die beiden Requiems etwas ins Gehege gekommen.
Freundlicher, nachdrücklicher Beifall in der gutbesuchten Kirche. Hoffnung auf ein Wiederhören beim Nachhauseweg. Andreas Bernnat
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen