Die Frau ohne Akte...

■ ... oder was Mielke alles nicht sah

Trude L. hat eine entsetzliche Entdeckung gemacht. Es gibt keine Akte über sie. Neidvoll starrt sie auf ihren Nachbarn, der zwischen zwei Haufen Papier verschwindet. Sie kennt ihn, und das macht die Sache besonders schmerzvoll. Ein kleines Licht war er, Techniker, katholisch, hat vielleicht mal einen Ausreiseantrag gestellt. Aber sie, sie hat widersprochen, damals im Betrieb, als der Parteisekretär sie zwingen wollte, ein paar Worte an die Belegschaft zu richten nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Ein paar Worte an die chinesischen Genossen. Da hat sie, seit 30 Jahren in der Partei, einfach nein gesagt. Steht das denn nirgends? Schon ergreift sie leichte Panik. Wie soll sie es ihren Kolleginnen im Betrieb erklären? Werden die nicht denken, sie war so eine Hundertprozentige? So 'ne „rote Ziege“, hat sie das nicht tuschelnd gehört, letzthin auf dem Klo, als die beiden jungen Frauen sich kichernd und mit der Nase nach oben von ihr abwandten?

Trude L. versteht die Welt nicht mehr. Zum zweiten Mal schon hat sie den Antrag ausgefüllt und wieder nichts. Es gibt keine Akte. Am 1.1. stand sie bereits um sechs Uhr vor der Tür der Gauck-Niederlassung am Runden Eck. Sie war eine der ersten, hat gleich dort den Antrag unterschrieben. Nichts. Nicht eine Zeile. Sie fühlt sich betrogen. Kramt in den Erinnerungen. Noch im Sommer 1989 hat sie mit ihrer Schwägerin in Düsseldorf telefoniert, lange und ganz unvorsichtig, als sie sich nach dem Verbleib ihres Sohnes erkundigte, den sie in Ungarn vermutete. Und bedankt hat sie sich, für das schöne Paket zu ihrem 60. Geburtstag, für jedes einzelne Stück, für die Pralinen, den Simmel, das Parfum. Man hat sogar darüber geredet, ob sie nicht mal zu Besuch käme, irgendwann mal, jetzt könne sie ja, vielleicht. Selbst während einer Parteiversammlung hat sie einer Genossin gegenüber eine Andeutung gemacht, ob man nicht doch mal eine Fahrkarte gen Westen beantragen solle. Und dann: der 7. Oktober '89, die Fahne, die sie nur halb, jawohl halb, aus dem Küchenfenster gehängt hat. Das hat die Frau in der Wohnung gegenüber, die nie Besuch empfing und die sie ja immer schon in Verdacht hatte, doch bestimmt bemerkt. Steht das denn nirgends?

Trude L. hat Besuch von der 'Bild‘-Zeitung bekommen. Oder war es 'Super-Illu‘? Voller Enttäuschung hat sie einfach zum Telefonhörer gegriffen. Jetzt lichtet sie gerade der Fotograf ab vor ihrem Transparent, das sie für die Montagsdemonstration im Dezember '89 gemacht hat: „Stasi in die Produktion — Wir sind ein Volk!“ Der junge Reporter kam mit einem Blumenstrauß und hat ihr versprochen, eine „dolle Geschichte“ zu machen. Titel: „Die Frau ohne Akte — stiller Widerstand oder was Mielke alles nicht sah!“ nana