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Hier ist (nicht) Helsingör

■ „Hamlet“ in Nordhausen oder Die Entdeckung der Normalität

Ein trister Januarabend. Klamme Kälte, Nebel, die Gäßchen sind schwach beleuchtet. Kein Mensch ist unterwegs. Frühzeitige Geisterstunde; eine Kirchturmuhr schlägt sechs Uhr. Ein Trabi knattert durch die Nacht. Wir sind nicht in Helsingör — wir sind in Nordhausen im ehemaligen Zonenrandgebiet, südlich des Harzes gelegen, 50.000 Einwohner.

In Nordhausen gibt es ein Stadttheater mit allen Sparten, 250 Angestellten und einem Etat von 17,5 Millionen. Der Übergang 1989/90 verlief hier glimpflich. Der alte Intendant klammerte sich nicht an seinen Stuhl, sondern ging einfach ein Jahr früher in den Ruhestand. Beerbt wurde er von zwei dreißigjährigen Aufsteigern: Hubert Kross jr. war schon vorher als Chefdramaturg am Haus und ist jetzt Intendant.

Michael Schindhelm nennt sich schlicht „Direktor“, arbeitet zugleich als Autor, Übersetzer und Dramaturg. Die beiden Chefs wandelten das Theater in eine GmbH um und teilen sich die Leitung ohne die westübliche Splittung in künstlerische und wirtschaftliche Kompetenzen. Der Verwaltungsdirektor, so Schindhelm, sei gewöhnlich nur ein „Agent des Stadtkämmerers“.

Kross und Schindhelm verstehen sich nicht als Bilderstürmer. In Nordhausen wurden übrigens auch vor der Wende schon Stücke gespielt, die am Rande des Erlaubten lagen (es gab hier immerhin Hacks- und Braun-Uraufführungen); diese Linie läßt sich fortsetzen. Dem Bedürfnis des Publikums nach westlicher Unterhaltungskost kommt man in einem gewissen Maß entgegen. Vor allem aber setzen die Chefs, das betonen sie immer wieder, auf Ensemblearbeit; und das heißt: auf personelle Kontinuität. Westler, die mit hochgekrempelten Ärmeln in Nordhausen aufkreuzen, um hier mal eben was zu inszenieren, werden nicht gleich mit offenen Armen an die Brust gedrückt. Die Gratwanderung zwischen DDR-Nostalgie und opportunistischer Anpassung an westliche Usancen gehen die beiden Chefs mit Bedacht an. Im Intendanzbüro stapeln sich die Briefe von Bewerbern, die gern als Regisseure oder Dramaturgen nach Nordhausen kämen — aber im Grunde brauche man niemanden. Diejenigen, mit denen man arbeiten will, hat man im Auge und unter Vertrag.

Der junge Hamburger Regisseur David Gravenhorst und der etwas ältere Bühnenbildner A. Christian Steiof sind die einzigen „West-Importe“, mit denen Kross und Schindhelm längerfristige Pläne haben. Von ersten Erfolgen beflügelt, hat das Team sich jetzt an Hamlet gewagt, das Stück, das auch größere Ensembles an die Grenze ihres Leistungsvermögens führt. Doch letztlich braucht man auch dazu nicht mehr als viel Mut und einen Hamlet— die Nordhausener haben beides. Hier ist Helsingör, hier spielt!

Den Altstadtnebel, das Nordhausener Pseudo-Helsingör hat Steiof nicht ins Theater gebracht. Im Gegenteil: Auf der Bühne wie im Saal — der eifrig mitbespielt wird — ist Licht im Überfluß. Man sieht und wird gesehen. Die Premiere ist ausverkauft: Die durchschnittliche Platzausnutzung liegt indes bei rund 60 Prozent (andere Ex-DDR-Theater stehen sehr viel schlechter da). Auch viele Westler sind im Publikum und erfreuen sich der für ihre Verhältnisse niedrigen Eintrittspreise.

Hamlet — ist das nicht ein Stück über die DDR? Über ein Volk von Hamlets, die zwar riechen, daß was faul im Staate ist, aber doch lieber faul über Sein oder Nichtsein räsonieren? Und, andererseits, ein Volk von Rosenkrantz' und Guildensterns, die sich in der Maske des Wohlwollens an ihre Mitbürger anschleimen und sie aushorchen; die meinen, sie könnten auf den Seelen ihrer Mitmenschen wie auf Flöten (!) spielen, und oft können sie's tatsächlich, weil die anderen eben doch keine Hamlets sind?

Passé. Der kompakte Anspielungshorizont des Textes ist auf den Schnürboden der Geschichte gerattert; vorbei die Zeiten, da man sich im Saal an den politischen Subtexten delektierte und darob auch schechte Aufführungen erträglich fand. Wenn heute was faul ist im Staate Dänemark, dann ist halt was faul im Staate Dänemark — basta. Die Theater sind zurückgeworfen auf die Geschichten selbst. Wie jeder Einschnitt birgt auch dieser eine Chance. David Gravenhorst inszeniert mit Intelligenz und beachtlichem Geschick die Fabel des Stücks— möge sich jeder dabei denken, was er will.

Stefan Saborowski ist ein furioser Hamlet, kein Melancholiker, eher ein lustvoller Provokateur, ein keineswegs hölzerner Intellektueller, den die scharze Hornbrille nicht daran hindert, auch mal eine sportive Einlage zum besten zu geben; erst gegen Ende des langen Abends geht ihm spürbar der Atem aus. Der Auftritt der Wanderschauspieler ist gekonnt stilisiert, ganz ohne schlechte Parodie schlechten Theaters. Die Totengräberszene war selten so komisch wie hier... Das Ensemble lebt.

Nicht durchweg ist dieses Theater der Dreißigjährigen kurzweiliger und vitaler als das ihrer Altvorderen; es braucht schon auch hier seine Zeit, bis die neun Toten des Dramas auf der Schiefertafel rechts vorn verzeichnet sind. Aber der Abend hat Witz und Form und läßt für die Zukunft Gutes erwarten. „Wenn einer unserer Gäste nach getaner Arbeit wieder weggeht“, sagt Hubert Kross jr., „hat sich jedesmal ein bißchen was verändert.“ Ein „Theaterwunder“? Nein, nichts anderes als die Entdeckung der Normalität. Auch die ist manchmal ein Abenteuer wert. Martin Krumbholz

William Shakespeare: Hamlet. Regie: David Gravenhorst, Bühne: A. Christian Steiof. Mit Stefan Saborowski, Stefan Holm, Iven Tiedemann, Kathrin Messerschmidt, Wolfgang Brumm, Mike Sommerfeldt. Stadttheater Nordhausen. Weitere Aufführungen am 7. und 29.Februar

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