: Am Strome hängt, zum Strome drängt doch alles
■ Größter Stromausfall seit 1945 im gesamten Süden Berlins sorgte für das totale Verkehrschaos/ Menschen blieben in Liften und U-Bahnen stecken
Berlin. Am Strome hängt, zum Strom drängt doch alles, ach, wir Armen. Frei nach Goethe bekamen die Berliner gestern ein Lehrstück darüber geliefert, wie abhängig wir doch alle von der verdammten Elektrizität sind. Vom größten Stromausfall der Berliner Nachkriegsgeschichte betroffen waren mit den Bezirken Zehlendorf, Steglitz, Wilmersdorf, Tempelhof, Schöneberg, Neukölln, Kreuzberg und Teilen von Tiergarten und Charlottenburg der gesamte Süden von West-Berlin und etwa die Hälfte der rund 1,3 Millionen Bewag-Kunden. Der Blackout, der um 13.14 Uhr begonnen hatte, legte einige Stadtteile mehrere Stunden lahm. Während etwa in Teilen von Kreuzberg bereits um 14.45 Uhr die Lichter wieder aufleuchteten, konnten die Bewohner von Britz, Lankwitz und Mariendorf damit erst gegen 18 Uhr rechnen.
Ein Kurzschluß im Umspannwerk Mitte in der Lützowstraße hatte den Stromausfall ausgelöst. Er schnitt den Süden von der Stromversorgung ab und ließ die Kraftwerke Lichterfelde, Steglitz, Rudow, Reuter Alt, Moabit und Wilmersdorf gleich mit ausfallen. Der Westteil hat bis heute ein vom Umland isoliertes Insel- Netz. Der Ostteil der Stadt stand dagegen weiter unter Strom. Das Bewag-Hauptquartier und das Polizeipräsidium waren ebenfalls ohne Saft, und nur letzteres konnte auf ein Notstromaggregat zurückgreifen. Weil die elektronische Steuerung der Telefonanlage ausfiel, konnten die Bewag-Mitarbeiter an einigen Apparaten nicht mehr nach draußen telefonieren.
Selbst die Bewohner der Nordbezirke mußten am frühen Abend damit rechnen, daß die Bewag ihren Strom abschalten könnte. Die Lastspitze, die in den frühen Abendstunden erwartet wurde, könnte den langsamen Aufbau der Spannung im Süden gefährden, hieß es bei der Bewag. Deshalb müsse man unter Umständen den bislang nicht betroffenen Abnehmern kurzfristig den Strom abstellen, bis die Kraftwerke wieder ihre volle Leistung erreicht hätten.
In den Mittagsstunden herrschte auf den Kreuzungen teilweise völliges Chaos, weil 791 von insgesamt rund 1.600 Ampeln ausgefallen waren. Doch die Autofahrer lernten in einem — zum Teil sprichwörtlichen — Crashkurs in Minutenschnelle die neapolitanische Fahrweise, die ohne Ampeln auskommt: Man schiebt sich so lange auf die Kreuzungsmitte, bis der Gegenverkehr nicht mehr weiterkommt. Radfahrer freuten sich, sie hatten die geringsten Probleme, im Stau weiterzukommen. Das Nachsehen hatten jedoch die Fußgänger, die nicht mehr über die Straße kamen und sich grüner als das nichtvorhandene Ampellicht ärgerten.
Chaos auch im öffentlichen Nahverkehr. Die U-Bahn-Züge auf den Linien 1, 6, 7, 8 und 9 fuhren gut eine Stunde im Süden überhaupt nicht. Im Tunnel steckengebliebene Züge konnte die BVG mit aus den Nordbezirken eingespeistem Strom bis zu den nächsten Bahnhöfen bugsieren. Die S-Bahn-Züge, die ihren Fahrstrom aus dem Ostteil beziehen, mußten ihr Tempo trotzdem drosseln: Die Signale werden nämlich mit Weststrom betrieben. Ein Ehepaar, das am U-Bahnhof Kurfürstenstraße zehn Minuten im Dunkeln steckenblieb, fluchte lauthals: »Typisch BVG. Wir fahren ja sonst nie, und jetzt das.«
Wer unter diesen Umständen nicht mehr U-Bahn fahren wollte, der guckte aber auch in die leere Bildröhre. An den Bushaltestellen klumpten sich die Massen zusammen, überfüllte Busse fuhren ohne Halt an fluchenden Menschen vorbei. Polizei und Feuerwehr konnten sich auf diese Weise trotz Sirene nur mit Mühe ihren Weg durch das Verkehrschaos bahnen. Rund dreißigmal mußte die Feuerwehr ausrücken, um in Liften steckengebliebene Menschen zu befreien.
Doch andernorts freute man sich über die unerwartete Mittagspause. In Büros und Betrieben drehten die Mitarbeiter Däumchen. Zu den Banken, deren Alarmanlagen ausgefallen waren, schickte die Polizei Beamte, um Überfälle zu verhindern. Diverse Läden schlossen einfach ihre Türen. Die Kassiererinnen in den Kaufhäusern wiesen die Kunden an, das Geschäft zu verlassen und die Einkaufswagen stehenzulassen, weil die elektronischen Kassen ausgefallen waren. Wohl so mancher Eierdieb dürfte die Gelegenheit zum Einklaufen genutzt haben.
Nur bei den Kreuzberger Türken drehte der Kebab-Spieß gemütlich weiter. »Strom direkt aus Istanbul«, griente einer, »nein, nein, Strom vom Satelliten.« Die extraterrestrische Energiequelle entpuppte sich schließlich als ordinäres Gas.
Ein Stückchen weiter jubelten die Pennäler einer Kreuzberger Gesamtschule und stürmten auf die Blücherstraße: »Schulfrei!«. Andere Schüler aber klingelten sich mit verzweifeltem Gesichtsausdruck den Daumen an ihren Elternhäusern platt. Nichts zu machen bei elektrischen Klingeln.
In den Krankenhäusern und Instituten des Bundesgesundheitsamtes wurden die Notstromaggregate angeschmissen. Das Amt erhielt zahlreiche Anrufe besorgter Bürger, die wissen wollten, ob sie nun ihre Tiefkühlkost wegschmeißen müßten. Sie konnten beruhigt werden: Einige Stunden Auftauen schaden den Lammkeulchen nichts. usche/hmt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen