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Nachrichten aus einer beginnenden Neuzeit

■ Martin Schongauers Druckgraphiken aus dem 15. Jahrhundert sind noch bis zum 16. Februar im Alten Museum zu sehen

Auf hellblauem Velours, wo letztes Jahr noch Rembrandts Graphiken und Zeichnungen hingen, sind jetzt Blätter von Martin Schongauer zu sehen — alle aus dem Besitz des Kupferstichkabinetts Dahlem.

Der Arbeit von Nachwuchskunstwissenschaftlern ist es zu verdanken, daß die Ausstellung überhaupt zustande kam. Die festangestellten Kräfte mußten dem Rembrandt Research Project zuarbeiten. Immerhin: Statt Rembrandt und Sonderöffnungszeiten für Scheckkartenbesitzer gibt es jetzt Schongauer und freien Eintritt. Folglich auch keine Menschenschlangen mehr vor dem Alten Museum.

Der »Ersatz« an Fachpersonal bedeutet in der Behandlung von Datierungs-, Zuschreibungs- und Deutungsfragen durchaus keinen Nachteil. Selbst Spezialisten können mit den Angaben zufrieden sein. Dem breiteren Publikum allerdings wird kann klarwerden, wer Martin Schongauer wirklich war und daß sein 500. Todestag sich eigentlich 1991 jährte. Allenfalls — wie tröstlich! — ist zu erfahren, daß auch Albrecht Dürer nichts davon wußte. Als dieser 1492 den von ihm hochverehrten Meister in Colmar besuchen wollte, kam er — wie die Ausstellung — ein Jahr zu spät.

Der durch die Umstände bereits angezeigte Nachteil Schongauers in der Gunst des Kunstbetriebs hat jedoch auch vorteilhafte Seiten. Wo der Name allein nicht genügt, Besucherinteresse zu wecken, bleibt Zeit zum Betrachten. Der Besucher kann sich ungestört der Faszination handwerklicher Perfektion überlassen. Im langsamen Nachvollzug der Arbeitsspuren auf der Metallplatte werden Qualitäten der Drucke erfaßbar, die über den unmittelbaren, materialen und graphischen Reiz hinausgehen. Der technische Verzögerungseffekt, mit dem das Ergebnis auf Papier den Bemühungen der Druckplatte folgt, ist zu begreifen. Verständlich wird, wie die Arbeitsdauer zur Darstellung bringt, was im Blick auf das Bildthema als bloß Überflüssiges erscheint. — Ist es zwangsläufig, daß jede Entwicklung die neue Wirklichkeit ignoriert, die sie herstellt? Kolumbus wäre ohne Hoffnung, den vertrauten Boden Indiens auf dem Seewege zu betreten, nicht nach Westen aufgebrochen. Der Buchdruck übte sich am Bibeltext, und auch das neue Reproduktionsverfahren zur Verbreitung von Bildinformation beschränkte sich weitgehend auf den christlichen Mythos. Für andere Inhalte war das Medium, warum auch immer, blind. Gewiß ist nur, daß sich die Kunde von Schongauers Ableben so sich nicht verbreiten konnte.

Dennoch: In Schongauers Bild- Nachrichten von exotischen Erscheinungen — wie zum Beispiel einem Elefanten oder in Szenen des Alltagslebens — gibt es eine Fülle zu entdeckender Details. Gerade auch die Bilder biblischen Inhalts werden durch den erzählerischen Überfluß interessant.

Die vorgeführten Figuren aus dem Alphabet der christlichen Mythologie treten als zwitterhafte Wesen auf: halb dem suggestiven Wirklichkeitssinn für neue Raumerfahrung und zeitgenössische Einkleidung ergeben, halb von der Abstraktion der Komposition, von tänzerischer Körperhaltung und dem Mosaik des Faltenwurfs beherrscht.

Der abstrakte Charakter, ihr Buchstabenwesen, steht gegen ihre naturalistische Vertrautheit und benötigt Attribute, die die Entzifferung des Bildes garantieren: der heilige Sebastian, von Pfeilen durchbohrt, die Jungfrau mit der Öllampe und andere verbürgte Details. Dem heutigen Betrachter, mit der Wirklichkeit und ihren Zeichen im 15. Jahrhundert unvertraut, wird es dadurch nicht leichtgemacht — immerhin helfen die Ausstellungstexte, die Attribute etwas besser zu verstehen. Einen weiteren Anhaltspunkt bietet die Kennzeichnung geistigen Eigentums: auf keinem der Blätter fehlt das Monogramm M+S, immer scheint es den Gesamtaufbau der Bilder zu dirigieren. — Indiz technischer und ökonomischer Entwicklungen, die die Wirklichkeit und ihre Bilder in Bewegung brachten. Hier wird das Spannende an den Bildern evident: Zum einen steht die Erfindung einer neuen Qualität (die der Urheberschaft) gegen die allgemeine Verbindlichkeit des Mythos, den sie zu untergraben beginnt. Die Originalität der Bildschöpfung, nicht nur im naturalistischen Detail, findet aber erst in der Formalisierung ihre Rückbindung an die Tradition. Ulmann M. Hakert

Martin Schongauer: Druckgraphiken. Altes Museum, Öffnungszeiten: Mi.-So. 10-18 Uhr. Noch bis zum 16. Februar.

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