: Christa Wolf
■ betr.: "Die prophetische Tradition" ( Aufstieg und Fall der Schriftstellerin in der DDR), taz vom 1.2.92
betr.: „Die prophetische Tradition“ (Aufstieg und Fall der Schriftsteller in der DDR) von Boria Sax, taz vom 1.2.92
Ich frage mich, ob die Kritiker von Christa Wolf die gleichen Bücher meinen, die mich durch die letzten 20 Jahre begleitet haben. Sie ist und bleibt für mich der/die wichtigste deutsche Schriftstellerin dieser Zeit. Eine Erörterung, ob sie mit ihrem Schreiben an den Verbrechen des ostdeutschen Staates mitschuldig wurde, halte ich im Westen für nicht zulässig. Daß sie damit Neid und Mißgunst westlicher Kollegen herausgefordert hat, scheint mir jedoch ziemlich eindeutig.
Christa Wolf hat als Frau über Frauen geschrieben. Christa T. mag an den gesellschaftlichen Umständen in der DDR gescheitert sein — mit ihrem Lebensanspruch stößt sie jedoch an Behinderungen, die Frauen auch heute noch, auch im Westen, erleben. In Kassandra geht es nicht darum, ob sie zu gut oder nicht gut genug für Aeneas ist. Hier hat eine „emanzipierte“ Frau die Entscheidung getroffen, den Geliebten zu verlassen, weil sie „einen Helden nicht lieben kann“. Das ist für mich nachvollziehbar; ebenso die Erfahrung, daß er stumm bleibt, „Du hast nicht gesagt... ich könnte dich davor bewahren“, überhaupt nicht in Erwägung zieht, mit ihr gemeinsam eine neue Zukunft zu gestalten.
Die Infragestellung männlicher Werte, die Lebenssehnsucht von Frauen und die Sprachlosigkeit zwischen den Geschlechtern — das sind Themen von Christa Wolf. Vielleicht hat sie ihr Ich bloßgelegt; aber sie hat damit ins Herz von Frauen getroffen — und anscheinend den Nerv der Männer. Ilse Schollmeyer, Idstein
Christa Wolf hat es vorausgesehen: „Es wird noch lange mir oder uns vorgehalten werden, daß wir diese Hoffnung (daß sich nach 1989 in der DDR etwas Eigenständiges erhalten könnte, R.U.) hatten, wie überhaupt uns noch sehr lange vorgehalten werden wird, daß wir irgendwann einmal eine Hoffnung, eine Utopie hatten.“ Christa Wolf in einem Fernsehinterview im März 1991.
Die DDR verschwindet, auch aus unserem Bewußtsein. Was bleibt, ist zu großen Teilen Verklärung. Auch Boria Sax leistet einen Beitrag dazu. Stellenweise bekommt man den Eindruck, mit wenig Mühe ließe sich der Stoff zu einem Orwellschen Roman verdichten. Zum Beispiel wenn der Autor beschreibt, wie von frühester Kindheit an der Stil der Marxschen Werke in Form epigrammatischer Bruchstücke in unser allgemeines Bewußtsein sickerte.
Ansonsten bin ich ziemlich ratlos, wie ich die an Diffamierung grenzende Behauptung, Christa Wolf und Volker Braun seien durch den Fall der Mauer von einem Publikum, das sie hätten führen wollen, weit abgeschlagen worden und dergleichen mehr, werten soll. Im besten Falle wohl als maßlose Unwissenheit. Roland Urban, Berlin
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