: Ein Coup ohnegleichen
Von Leuten, die die Aufschreibesysteme nicht entziffern wollen. Zu Klaus Laermanns Polemik gegen eine angeblich „neue Dunkelheit“ in den Geisteswissenschaften ■ Von Ulf Erdmann Ziegler und Ina Hartwig
An den geisteswissenschaftlichen Fakultäten der Freien Universität in Berlin, die sich im Selbstverständnis vieler Studenten und einiger Professoren als irgendwie noch fortschrittlich ansahen, wurde vor wenigen Jahren eine „Methodendiskussion“ geführt. Bei bereinigten Standpunkten ergab sich eine Gegenüberstellung von „Hermeneutik“ und „Poststrukturalismus“. Allerdings lag eine Besonderheit der Debatte in der unterschiedlichen Behandlung der Positionen. Hermeneutik, die Lehre vom mehrfachen Sinn der Schrift, die seit ihrer Konsolidierung durch Schleiermacher vor rund hundertfünfzig Jahren mehrere Krisen durchweht hatten, wurde als historisches Modell mit einer gewissen Kraft zur Selbsterneuerung begriffen und als solches mit Bedacht referiert. Dasselbe kann man von der Vermittlung des „Poststrukturalismus“ nicht behaupten. Die Student(inn)en konnten bei der Aneignung des Stoffs auf die taugliche Hilfe nur weniger Professoren und Assistenten rechnen, und die wiederum waren über mehrere Fakultäten verstreut. So ergab es sich, daß auf der Suche nach der Methodisierung der Methoden manches Studium „interdisziplinärer“ stattfand als die Student(inn)en es sich selbst gewünscht hätten. Als man die Grundzüge der neueren Theorie, deren Übersetzung in die deutsche Sprache und in deutsche Verhältnisse nicht immer leichtfiel, in etwa begriffen zu haben glaubte, meldete sich der Berliner FU-Professor Klaus Laermann mit einem populistisch verfaßten Zeitschriftenbeitrag zu Wort, der Lacancan und Derridada hieß, und dessen Kernthese — wie schon der Titel verrät — lautete, die „Adepten“ des französischen Unsinns brächten den heimischen Wissenschaftsbetrieb in Gefahr.
Laermann erhielt für seinen polemischen Beitrag, der fast gleichzeitig in der 'Zeit‘ (Nr. 23, 1986) und im 'Kursbuch‘ (Nr. 84, Juni 1986) erschien, einen Feuilletonpreis und viel Beifall aus den Reihen fast erloschener Geistesblitze, für die die Erneuerung der Geisteswissenschaften mit dem Einfluß der „Frankfurter Schule“ ein für alle Mal als erledigt galt. Im August letzten Jahres faßte Laermann nach. Während vor wenigen Jahren das Gespenst noch groß und drohend vor der Tür stand, behauptet Klaus Laermann jetzt, es sei in Gestalt bestimmter Professoren in den Wissenschaftsbetrieb eingedrungen, und wo es zu Werke gehe, breite sich „Dunkelheit“ aus: Fiat nox! hieß der Artikel, als dessen oberstes Anliegen die Forderung nach Allgemeinverständlichkeit unterbreitet wird ('Die Zeit‘, Nr. 32, 1991). Methodisch unterscheiden sich die Artikel in einem wichtigen Punkt: Während Lacancan... mit Zitaten operierte, deren höchst heterogene Quellen in den Fußnoten gesucht werden mußten, ist Fiat nox! nur noch begleitet von neun Zitaten, die außerhalb des Haupttextes plaziert in die Argumentation nicht mehr eingebunden sind.
Diesmal versucht Laermann, die institutionelle Psychologie der „dunklen“ Autoren und Hochschullehrer zu explizieren, die er als geheimniskrämerisch, suggestiv und gleichwohl wirksam beschreibt. Ohne Frage glaubt Laermann — und mit ihm eine gewisse begeisternd brüllende Klientel —, mit den Scheinwerfern der Aufklärung ins Dunkel mafiotischer Wissenschaften zu leuchten. Allerdings hatte schon Laermanns Pamphlet gegen den Soziologieprofessor Dietmar Kamper rhetorisch gesehen den Mangel gehabt, daß der Autor sich nicht entscheiden konnte, ob er den selbstgewählten Gegner lieber nicht verstehen oder ob er ihm eine zynische Weltuntergangssehnsucht nachsagen sollte (Das rasende Gefasel der Gegenaufklärung — Dietmar Kamper als Symptom, 'Merkur‘ 39, 1985). Interessanter als was Laermann behauptet, ist daher, was er ausläßt. Weder nennt er die rhetorischen Strategien seiner „Dunklen“, noch stellt er sich die Frage, warum die Autoren des französischen „Poststrukturalismus“ die theoretische Diskussion im Anschluß an Adorno dominieren (in den USA grenzt die Verehrung von Michel Foucault, Jacques Derrida und Julia Kristeva ans Kultische). Derartige Kritik ist in Laermanns universitärer Psychologie nicht vorgesehen. Daß seine Generation etwas versäumt haben könnte — Professoren, die 1968 unter den Studenten waren — hält er offenbar nicht für möglich. Oder er opfert die Einsicht seiner polemischen Absicht.
Betten hochgeklappt
Das deutsche Bürgertum hat das eigene Denkterrain gegen Zumutungen von außen mit dem Charme des Hausmeisters verteidigt. Die Aufklärung ist ihm ein gut beleuchtetes Aquarium, und die großen Fische werden als Modelle des eigentlichen Lebens gefüttert und gepflegt: die endlosen Klassiker des deutschen Theaters zum Beispiel. Wie Norbert Elias zeigte, hat sich das französische Bürgertum beizeiten mit den Vorzügen des Hofes vertraut gemacht und die Höfischen mit den Vorzügen des Denkens. So sind der galante Text und das barocke Temperament in Frankreich nicht im gleichen Maß verpönt wie in Deutschland, wo das Bauhaus schließlich bewiesen hat, daß das Bett tagsüber hochgeklappt werden muß, damit man im Schlafzimmer ohne Hintergedanken auch wohnen kann. Der französische Wissenschaftsbetrieb allerdings ist — verglichen mit der deutschen Volks-Universität — ungleich rigider als der deutsche, und es ist darauf hinzuweisen, daß beide der von Laermann zitierten Pariser Professoren die Sozialisation der dortigen Alma mater durchlaufen haben und den stark verkürzten Kanon auch neueren und schwierigen Materials an ihre Student(inn)en weiterzugeben verpflichtet sind. Als Autoren jedoch verlassen sie bereitwillig den akademischen Rahmen, und nutzen den Freiraum, der sich ihnen öffnet. Das trifft auch auf die deutschen Kollegen zu, die Laermann angreift: Man schreibt nicht notwendig wie man lehrt.
In Frankreich gehören ein paar Essentials des Teufelchens Jacques Lacan bereits zum Abiturwissen, während der deutsche Abiturient Glück hat, wenn er in den ersten vier Semestern eines geisteswissenschaftlichen Studiums lernt, das „Unbewußte“ vom „Unterbewußtsein“ zu unterscheiden. Ein Beispiel: Weil seit zwei oder drei deutschen Hochschulgenerationen in den Geisteswissenschaften auf keinem Wissenskanon mehr bestanden wird, stürzt sich der Germanist G. im Grundstudium eher wahllos auf Humboldt oder Hjelmslev, stößt an der Theorie auf Granit und lernt, daß eine unverbindliche Sprache keine Chance hat im Wissenschaftsbetrieb und eine verbindliche nicht verfügbar ist. Diese Erkenntnis kostet ihn einige Jahre. Hat er sein Hochschulstudium Mitte der achtziger Jahre begonnen, können wir fast froh sein, ihn in diesem Winter tief über die erste oder letzte Schrift eines modernen Klassikers gebeugt zu sehen, was ihm im Frühjahr den Magister bescheren wird. Uns interessiert an seinem Fall, daß er sein vor einigen Jahren erworbenes Spezialistentum in puncto Metapherntheorie nicht zu aktivieren gedenkt.
Das unterscheidet ihn von seiner ehemaligen Kommilitonin F., deren schwierige Lage Ende der achtziger Jahre sich darin ausdrückte, daß ihr Professor mit einem befangenen Lächeln eine Prüfungsarbeit abnahm, von der er gestand, wesentliche Passagen nicht zu verstehen. Der Konflikt wird durch die Annahme der Arbeit umgangen. Weder stellt sich die Fakultät ihrem Versäumnis noch beharrt sie auf einer gültigen Konvention, die die Arbeit der F. nicht zuließe.
Bedarf offenkundig
Zu ihren Schlüsselerlebnissen während des Studiums gehörte die Lektüre Freuds und die Begegnung mit einigen Schriften Lacans. Schärfer als die Grundbegriffe wie „Subjekt“ oder „Gesellschaft“ haben sich die Kategorien Lacans ihr eingeprägt: das Imaginäre und das Symbolische. Erst mit diesen Begriffen war es ihr möglich, bestimmte Übergänge vom Individuellen zum Institutionellen, vom Strukturellen zum Systematischen, von Liebe in Macht zu begreifen. Die Grundbegriffe Lacans haben nicht die Germanistik (sagen wir: von Käte Hamburger bis Peter Szondi) gesprengt, aber sie haben die Anthropologie, die der „Literaturwissenschaft“ bis dahin zugrunde lag, zumindest zweifelhaft erscheinen lassen. Eine Welt zweier Blöcke: Kunst hier, Gesellschaft dort; ein bis zur Dämlichkeit abgeflachter Adornismus: Große Kunst heilt kleine Wunden; die öde Kommunikationsmaschine Ecos am Beispiel blinkender Lämpchen — vieles von dem hatte sich erübrigt.
Jeglicher Explikation, wie wir sie in Ansätzen begonnen haben, entzieht sich Laermann, indem er den Eindruck zu vermeiden sucht, es handle sich um die Kollision zweier oder mehrerer Traditionen. Er schildert die Strategien der Poststrukturalisten (zugegeben, unser Etikett ist grob) als Psychologie des Dünkels. Unfreiwillig hat er damit insofern Recht, als die von ihm Angegriffenen aus den akademischen Gepflogenheiten ja nicht — wie Laermann unterstellt — ausgebrochen sind, sondern die Sprachcodes der Geistes- und Sozialwissenschaften tatsächlich weiterpflegen. Daß eine schwierige Diktion von „kleinen Zirkeln“ rezipiert und euphorisch begriffen wird, gehört zur Anschubphase jeder neuen Theorie beziehungsweise ihrer Rezeption: Ende der fünfziger Jahre Marcuse, Ende der sechziger Benjamin, dann Lévi- Strauss und Chomsky. Immer war der akademische Betrieb langsamer als der erste Kreis der Rezipienten.
Laermanns Angriff ist allerdings kein Versuch, versäumte akademische Auseinandersetzungen exemplarisch nachzuholen. Er macht sich nicht die Mühe, tatsächlich unübersehbare Eigenheiten der von ihm namentlich genannten Autoren zu benennen; beispielsweise eine fieberhafte Neigung, Analogien überhaupt und Analogien zu neuen Medien zu bilden und eine Leidenschaft, Theoreme implizit und damit sehr verdichtet mitzuteilen. Was Laermann über die Sprache der „Dunklen“ sagt, gilt allein ihrer Fähigkeit zum Überreden: Durch die „Plötzlichkeit ihrer Wirkung“ gelinge es ihr, „in einer größeren Nähe zum mündlichen Ausdruck zu stehen“. Deshalb sei diese Sprache „trotz ihrer Schriftform faszinierend spontan“. „Die hohe Geschwindigkeit“ biete den Autoren „den Vorteil einer beachtlichen Produktionssteigerung“. Nun gut, wir haben durch Montage der Zitate (die wörtlich richtig sind) Laermanns Wertung umgedreht. Womit wir sagen wollen, daß wir seiner Beobachtung in diesen Punkten im wesentlichen zustimmen.
Nicht umsonst fühlen sich gerade die Hochschullehrer von Laermanns Polemik bestätigt, die in den letzten zwanzig Jahren weder durch zahlreiche noch durch wirksame Publikationen aufgefallen sind. Das ist nicht allein ihre Schuld, sondern auch ein Effekt der Massenuniversität, die die Forschung untergräbt und die Lehrenden zu Lehrern macht. Aber wie schon anfangs unter dem Stichwort „Methodendiskussion“ angedeutet, hat die geisteswissenschaftliche Forschung ein Vakuum entstehen lassen, dessen selbstgefällige Existenz durch das Eindringen der „Theorien“ zerplatzt ist wie eine Seifenblase. Während das Bedürfnis der Studenten nach vermittelnder Lektüre durch überfüllte Seminare — Roland Barthes — die frühen Schriften — mehr als offenkundig wurde, haben nur wenige Lehrende aus den geisteswissenschaftlichen Fakultäten sich bequemt, Kraft und Reichweite strukturalen Denkens auszumessen, zu werten und weiterzugeben.
Ein noch geringerer Teil des akademischen Personals hat sich (erfolgreich) bemüht, die neuen Methoden an den alten Gegenständen zu prüfen und zu revidieren; diesen wenigen allerdings ist ein Coup ohnegleichen gelungen. Sie haben sich von ihren französischen Quellen ein Stück weit entfernt und — zusätzlich Marx, Nietzsche, Adorno im Werkzeugkasten — nicht nur die Geschichte der deutschen Literatur seit dem Sturm und Drang, sondern parallel dazu die Geschichte ihrer Rezeption neu geschrieben. Die wohl wirksamste und aufsehenerregenste Publikation (nicht nur) unter Germanisten ist Friedrich A. Kittlers Habilitationsschrift Aufschreibesysteme 1800/1900 (Stuttgart 1987). Was die Germanisten alter Schule an dieser Arbeit und den ihr verwandten in Rage bringt, ist vor allem die entschiedene Anwendung eines Vokabulars, das man vor etwa fünfzehn Jahren mit Recht hätte als „neu“ bezeichnen können.
Grundlegend mißverstanden
Um ein zentrales Beispiel zu nennen, kehren wir zurück zur Kategorienlehre Lacans. Mit dem „Imaginären“ hat Lacan dem Individuum und dem weiten Feld seiner Irrtümer einen entscheidenden Platz zugewiesen; das „Symbolische“ dagegen meint die starre, wenngleich gewachsene Struktur jener Gesetze, nach denen Herrschaft bis in den Mikrokosmos der Zweierbeziehung verteilt wird. Die Kuriosität der Beziehung Franz Kafkas in Prag zu seiner Ver- und Entlobten Felice Bauer in Berlin ist natürlich allen biografisch orientierten Interpreten aufgefallen; wenn man das Verhältnis allerdings als symbolische Funktion im Sinne Lacans betrachtet, wird evident, warum der Autor auf dem Sprung zum ersten Roman die Lebenspraxis ausgerechnet einer Stenotypistin unter Kontrolle zu bringen versucht und warum sich sein Interesse gerade auf die Lese- und Schreibgewohnheiten der Empfängerin seiner Briefe richtet: Niemals solle Felice ihm nachts schreiben. Denn nachts will er allein schreiben. Ihr hält er den blinden Spiegel hin, an dessen Rückseite das Imaginäre des Autors Kafka in Erscheinung tritt: das, was er durch sie meint zu sein.
Lacans Begriffe sind nicht weniger komplex als Kants „Vernunft“ oder Benjamins „Geschichte“. Sie stecken den Rahmen einer Anthropologie ab, die ihren Blick nur noch auf das richtet, was vermittelt ist (was Menschen auf welche Weise über sich selbst sagen). Daher stellt die dritte, provokativste von Lacans Kategorien, das „Reale“, eine Art Grenzwert zur Sprache dar: Über das Reale könnten wir nicht sprechen, lautet eine seiner Formeln.
Einer Interpretation, die von ihrem „Gegenhalt in einer objektivierbaren Realität“ (Laermann) überzeugt ist, erscheint die Anthropologie Lacans selbstverständlich als Provokation. Wer positivistisch denkt, ist versucht, Lacan grundlegend mißzuverstehen: Das Reale erscheint dann nicht mehr als der Horizont, vor dem die Vermittlung ihre Systematisierung vorzunehmen hat, also eine Selbstdisziplinierung der Aussagen, die über den Gegenstandsbereich der Interpretation möglich sind. Statt dessen heißt es, den Franzosen sei der „Realitätssinn“ abhanden gekommen.
Der Zweifel an jeglicher Erfahrung gehört zum Grund der Philosophie; tatsächlich aber trägt er kein Modell der Interpretation. Auch wir melden ernsthafte Bedenken an, wenn behauptet wird, die Totalität der Vermittlung habe sich undurchdringlich vor das gestellt, was wir erkennen können. So diskreditiert Jean Baudrillard das theoretische Haus, aus dem er stammt, wenn er mitten im Golfkrieg behauptet, was wir nicht zu sehen bekämen, finde auch nicht statt. Die zynische Konstitution des Menschen am Bildschirm zu begreifen, muß bei weitem nicht bedeuten, daß man vor dem Zynismus des medialen Alltags theoretische Verbeugungen macht. Wir sehen darin eher die Verbiegung einer bis dahin tauglichen Form.
Für die nach 1970 Berufenen war es eine Selbstverständlichkeit, die Sprache der Soziologie zu sprechen, und — in Grundzügen — die Sprache der Psychoanalyse. Während die Soziologie als Fakultät (jeder größeren Universität) sich bedingt erneuert hat und neue Ergebnisse an die Geisteswissenschaften weitergeben konnte, ist die Psychoanalyse behandelt worden, als sei sie eine unverrückbare Infrastruktur. Der seit den vierziger Jahren beständig wachsende Einfluß des Psychoanalytikers Lacan in Frankreich ist hierzulande spät registriert worden. (Nicht ohne Komik ist, daß Klaus Laermann neben Friedrich A. Kittler Anfang der siebziger Jahre zu seinen ersten Übersetzern gehörte.) Adornos Zeitgenosse Lacan hat in Frankreich auf wichtige Köpfe verschiedener akademischer Disziplinen entscheidenden Einfluß gehabt, und längst ist er als philosophisches oder philologisches Wissen in den akademischen Betrieb eingegangen. Seine späte Rezeption in Deutschland hat die Generation jener Professoren, denen das Modell der „Entfremdung des Menschen von ...“ so gemütlich ans Herz gewachsen war, nicht verhindern können; aber nicht nur die kryptische Sprache Lacans, sondern auch die Mehrzahl der akademischen Lehrer trägt Schuld daran, daß diese Theorie scharfe Risse ins Gebäude der Geisteswissenschaft getrieben hat. Nun geht es uns allen wie dem Mann in Peter Bichsels Geschichte, der erklärt, daß ein Tisch kein Tisch ist. Aber da sich Gegenstand und Methode in allen Wissenschaften zu verschieben pflegen, ist durchaus nicht entschieden, wer zur Jahrtausendwende zwischen den Stühlen sitzen wird.
Klar getäuscht
An Verunglimpfung grenzt Laermanns Behauptung, jene Professoren, die die Vermittlung der unterschiedlichen Geistestraditionen unter erheblichen Anstrengungen geleistet haben, hätten sich als „Opfer des Wissenschaftsbetriebs“ dargestellt und seien von den entsprechenden Gremien quasi aus Mitleid berufen worden. Von neun (in Fiat nox!) völlig beliebig und ohne Zusammenhang zitierten Autoren sind überhaupt nur vier deutsche Professoren; eines der Zitate stammt aus einem 1984 in einem Berliner Kleinstverlag erschienenen Buch, dessen Autor keinen akademischen Grad hat und unseres Wissens auch nicht dabei ist, einen zu erwerben. Dieses Zitat für eine angebliche gegenwärtige universitäre Misere heranzuziehen, kommt also einer Täuschung des Lesers gleich.
Der Fachbereich Germanistik an der FU Berlin mit etwa drei Dutzend Professoren hat sich bis jetzt jedenfalls erfolgreich gegen das Eindringen der dunklen Fremdlinge wehren können. Für ihr Promotionsvorhaben wendet sich die Studentin F. also an einen der „neuen Undeutlichen“, von dem sie bei Laermann liest, er verdanke seine Professur nicht seiner geradezu erschreckenden Bildung, sondern einem erpresserischen Dünkel. Immerhin sitzt ihr jetzt seit Beginn ihrer akademischen Laufbahn vor sieben Jahren erstmals ein deutscher Hochschullehrer gegenüber, der ihrem Vorhaben, was das Verhältnis von Gegenstand und Methode betrifft, systematisch begegnet. Den Studenten G. aber sehen wir ein paar Bücher ins Antiquariat tragen. Er gehört jetzt zu denen, die (in Laermanns Worten) „nicht verstehen und so dumm sind, das auch noch zuzugeben“. Glücklicherweise aber ist die Fraktion derer, die kopfschüttelnd den Anflug fremden Geistesgutes verhindert haben, in sämtlichen maßgeblichen Institutionen gut vertreten; und Professor Laermann sorgt beizeiten dafür, daß sie sich gegenseitig auf die Schultern klopfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen