: Wie krank ist Gerhard Sch.?
■ Drei Frauen wurden brutal ermordet: Im Prozeß gegen Gerhard Sch. hatten gestern die Gutachter das Wort
Schuldunfähig oder vermindert schuldfähig? Unter dieser Frage stand gestern der zweite Prozeßtag gegen den des dreifachen Frauenmordes angeklagten Gerhard Sch. (28) vor dem Bremer Landgericht. Im Mittelpunkt stand dabei das Gutachten des Sexualmediziners Reinhard Wille (Kiel). Nach seiner Einschätzung ist „die Unrechtseinsicht des Angeklagten nicht oder nicht erheblich gestört“.
Damit fällt eine Säule der Verteidigung in diesem Prozeß. Rechtsanwalt Andreas Wosgien wollte für seinen Mandanten „Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen“ geltend machen. Nach dem Stand des Gutachters Wille ist Sch. vermindert schuldfähig. Kriterium hierfür ist die Steuerungsfähigkeit eines Menschen zum Zeitpunkt seiner Straftat. Wille: „Es gibt keinen Maßstab für Willensfreiheit, aber ich möchte die völlige Steuerungsfähigkeit von Herrn Sch. zum Zeitpunkt der Taten bezweifeln.“ Juristisch sind diese Unterscheidungen brisant. Bei einer Schuldunfähigkeit muß der Angeklagte freigesprochen werden, bei verminderter Schuldfähigkeit wird die Strafe gemildert.
Noch einmal rollte der Sexualmediziner das Leben des Gerhard Sch. auf, eine Kette unbewältigter Zurücksetzungen und Frustrationen seit frühester Kindheit. Die Symptome: Einnässen und Einkoten noch in der Schule, ein Sprachfehler, der mühsam mit Sonderunterricht korrigiert wird, der junge Gerhard Sch. reißt sich gelegentlich ganze Haarbüschel aus, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
„Eine diffuse Ängstlichkeit hat von ihm Besitz ergriffen, die in der Pubertät dann manifest geworden ist“, erklärt Gutachter Wille den Seelenzustand des Heranwachsenden. Die zentrale Familienfigur ist die Mutter, die in der Familie das Sagen hat. Die tiefe Angst des jungen Gerhard resultiert aus einem traumatischen Schlüsselerlebnis. Aus einem nichtigen Grund sperrt die Mutter den Jungen aus und erklärt kategorisch: „Du gehörst nicht mehr zur Familie.“ Erst abends um 22.00 Uhr wird er von seinem Vater in die Wohnung geholt.
Gerhard Sch. zieht sich systematisch zurück. Die Angst wächst, und mit ihr verbindet sich Haß. In der Pubertät gesellen sich zu den sexuellen auch Gewaltphantasien. Gleichzeitig isoliert Sch. die Unfähigkeit, Kontakte aufzubauen. Er wird zum Tollpatsch, „chronisch frustriert und in permanenten Selbstwertkrisen.“
Das ändert sich auch nicht in der ersten Beziehung zu Freundin Olivia. Sie bestimmt die Beziehung, weil „er sich nur untergeordnet hat, auch sexuell“ (Wille). Seine Gewaltphantasien kategorisiert der Experte als „polymorph pervers“: „Er hat in seinen Vorstellungen wirklich nichts ausgelassen.“ Hier haben die brutalen Mißhandlungen seiner Opfer ihren Anfang.
Das Gutachten von Gerhard Wille ist sehr einfühlsam, aber es ist keine Absolution. Bei den von Sch. verübten Morden könnten „sowohl Affekt als auch Lustmord geschlossen werden“, urteilt der Sexualwissenschaftler nüchtern, und dann erklärt er unmißverständlich: „Das Tatmotiv Habgier kann man nicht wegpsychologisieren.“ Da außerdem Wiederholungsgefahr „eindeutig gegeben“ sei, solle das Gericht im Rahmen einer verminderten Schuldfähigkeit auch die Möglichkeit einer Sicherheitsverwahrung prüfen.
Rechtsanwalt Wosgien widerspricht. „Wie krank muß eigentlich jemand sein, der seine Opfer so zurichtet wie Herr Sch.?“ fragt er den Sachverständigen, das Gericht. „Ich finde das Ergebnis Ihres Gutachtens erschütternd“, wendet er sich an den Sachverständigen. Für ihn selbst sei der Umgang mit seinem Mandanten ganz schwer, seitdem er die Bilder vom Tatort gesehen habe. Ob die Gesellschaft sich angesichts der Brutalität des Täters jetzt, mit diesem Gutachten, vielleicht nur rächen wolle? Eine Haftstrafe für seinen Mandanten bedeute, „daß der nächste Selbstmordversuch paßt.“ Neunmal hat Sch. in den letzten vier Jahren versucht, sich das Leben zu nehmen.
Wille widerspricht. Man müsse den Angeklagten in einer Therapie auf seine Haft vorbereiten. Wenn er dann seine Strafe verbüßt habe (Richter Kratsch: „Nicht lebenslänglich, ohne hier etwas vorwegnehmen zu wollen.“), müsse er drei oder auch vier Jahre in eine Therapie. „Vor seinem 40. Lebensjahr ist nicht mit einer Normalisierung zu rechnen.“
Staatsanwalt Frank Repmann meldet sich. Das erste Mal in diesem Prozeß. Ob der Angeklagte überhaupt gebessert werden könne, will er wissen. „Es gibt ja Leute, die haben alle möglichen Macken und sehen es noch nicht einmal ein.“ Langwierig sei die Therapie, erklärt Wille noch einmal, aber nicht aussichtslos. mad
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