Abgrund auf!

■ Robert Kreis, Gentleman-Animateur, eröffnete „Schieck–s Varieté“ im Astoria

hierhin schräge

Brille mit Turban

Die Zeit vergeht, sollte man ihr deswegen böse sein? Ach nein.

Och doch. Schließlich war damals ja alles besser: die Autos fuhren noch nicht, sondern liefen, die Männer schlugen sich noch wegen der Knie der Cilly-Sisters auf die Schenkel, und die Frauen wollten noch wirklich unter die Räder. Hach, man sang von reichen Damen und bleichen Herrn, kurzum: das hat man heute wieder gern. Die Zeiten sollen wieder ein bißchen foxer trotten und dabei brüllen wie damals die roaring twenties. Und darum stellt man heute runde Tischlein mit Nummern auf Schiffchen in große Mehrzweckhallen und hängt die schnöde Sichtblechwelt zeitweise mit purpurnen Vorhängen ab. Vorhang auf für das Variete.

Etwa „Schiecks Variete“ in Bremens jüngstem Unterhaltungstanker „Astoria“ — das ist da, wo man früher baden ging und zwischendurch die Markthalle sank. Dahin stellt man jetzt von Montag bis Donnerstag u.a. Leute, die mit Frack sausen und dabei singen und Klavierspielen können, also einen wie Robert Kreis, einen Javaanse Jongen, wirklich. Auf Holländisch-Java '49 geboren, ist er heute nach großer Luxusliner- und kleiner Kleinkunstschule 10 Jahre im Geschäft als swingeling Entertainer.

Stellen Sie sich gleichzeitig Maurice Chevalier als Gattenmörder und Johannes Heesters als Animatör vor, dann haben Sie in etwa Robert Kreis. Diese hollän

hierhin Kopf

mit Blumen drauf

dischen Charmeur-Jongjes sind ja eh' schon sso hinreijssend leutsseijlig; aber Robert Kreis ist auch noch bodenständig abgründig; und das mögen die Leut–, da sind sie gleich selig und quietschen schon, wenn sich exotisch auf erotisch reimt. Dabei hat der Robert Kreis, der die Schlager der 20er/30er Jahre nicht nur reanimieren, sondern uns auch noch zu ihnen überreden will mit Conference-Exkursen in die entsprechende Historie — Robert Kreis hat ein besseres Publikum verdient als diesen launigen Mittelstand, für den sich die Sünde in der Pappnase manifestiert.

Zwischen seinen plauderquastigen Conferences nämlich haut der Herr Kreis dem Klavier derart auf die Tasten, daß das abgegrabbelte Liedgut wie erschrocken hochfährt und also lebendig wird — ein Salon-Berserker ist der; einer, der seinen Körper wie eine Grimasse verzieht und in der lächerlich großen Pose des Stummfilms auf uns einstürzt. Das wäre eine Herzensfreude für etwa eine halbe Stunde. Aber nicht für über zwei, wo jeder Einfall so gestreckt wird, bis die Gags ächzen.

Egalweg: das Publikum tobt und bläst enthemmt auf den kleinen Tröten vom transvestitischen Bauchladenverkäufer, eine hübsche Idee der Variete-Verantwortlichen Karin Schieck: 13 Jahre lang Packhauschefin und just zu Ruhm gelangt als dusselige Dauerkandidatin in Hape Kerkelings „Total normal“. Als sie

hierhin Kopf mit

Lorbeer

hörte, daß der Achim, also der Grunert, die gesunkene Markthalle nicht nur bergen, sondern ein neues Astoria-Flaggschiff draus machen wollte, da hat sie ihn gleich angerufen und gesagt: ein Astoria ohne Variete geht nicht, wenn Bremen kein Fischerdorf bleiben soll. Also ist sie eingestiegen, sollte aber noch etwas mehr mitbringen als ihre Kontakte von damals.

Draußen vor der Tür, im Richtwege, herrscht eisiges Schwei

hierhin Smoking

mit 1 Auge zu

gen. So hat sich's das anwohnende Publikum ausbedungen. Auch die Arizona-Bar im Eingang ist leer. Und tief unten im Souterrain stehen müde ein paar Eßtische und lassen die Deckchen hängen: Der erste Betreiber ist bereits hinfort. Wer möchte auch so ganz unten noch verweilen wollen, bloß weil es oben so schön war. Demnächst soll hier fasteres food hin. Als Ausdruck der neuen Zeit eventuell. Claudia Kohlhase