: Szenenwechsel
■ Prenzlauer-Berg-Nostalgie im Wertewandel/ Von der Oppositionellen-Nische zum In-Treffpunkt der linken Schickeria/ Auf dem Wege zum ganz normalen Bezirk?
Gründerzeithäuser, schmiedeeiserne Laternen und alte Straßenschilder prägen das Bild, das bei genauerem Hinsehen allerdings vom allgegenwärtigen Verfall getrübt wird. Ein alter Bezirk, so der erste Augenschein, und tatsächlich kann man hier noch Menschen treffen, die seit sechzig Jahren in ein und derselben Wohnung leben. »Meine Großeltern sind 1901 als Trockenmieter in die Wohnung eingezogen, in der ich geboren bin und heute noch wohne«, erzählt der 60jährige Zeitungshändler Günther B., der sich hier im Prenzlberg vor drei Jahren selbständig gemacht hat. Die »Trockenmieter« zogen damals für wenig Geld als erste in die neuentstandenen Mietskasernen, um die feuchte Bausubstanz trockenzuwohnen.
Von den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges blieb sein Kiez zum größten Teil verschont, obwohl nur einen Steinwurf weit entfernt ganze Stadtteile ausradiert wurden. Nach dem Krieg sich selbst überlassen, wurde hier kaum neu gebaut und noch viel weniger modernisiert. Einerseits verfiel zwar die Bausubstanz mehr und mehr, doch dafür blieben die Strukturen erhalten, die den Charakter so vieler Altbauviertel ausmachen: Hinterhöfe, in denen sich Hausgemeinschaften ihre Freiräume schufen, und Kneipen, in denen man seine Nachbarn ebenso treffen konnte wie in den vielen kleinen Läden rundherum.
Diese Strukturen machten Anfang der achtziger Jahre den Prenzlauer Berg so attraktiv für die neue, unabhängige Kulturszene. In leerstehenden Wohnungen und Fabriketagen entstanden Ateliers und Wohngemeinschaften, in leerstehenden Läden kleine Cafés. Wenn es auch kaum offizielle Möglichkeiten für Ausstellungen gab, wußten die Insider doch meist genau, in welcher Wohnung zwischen Schönhauser und Prenzlauer Allee die Bilder der oppositionellen Künstler zu sehen waren.
Selbst die Jugendclubs der FDJ versuchten schon vor der Wende mehr zu bieten als die samstägliche Disco. Schon damals gab es hier Lesungen, Theater- und Kabarettaufführungen und Konzerte fast aller Musikrichtungen; auch den damals verpönten Punk und Rock. Auch heute sind sie eher (Sub-)Kulturzentren als brave Freizeitheime. Vor allem der Franz-Club an der Schönhauser und der Knaack-Club in der Greifswalder mit seiner ziemlich schrägen Discothek Darmwäsche. »Aber die Szene hat sich ganz schön verändert«, meint Andreas Schwartz. Der 21jährige Feinmechaniker gehörte früher selbst dazu, heute ist ihm die Szene fremd geworden. »Langsam wird es hier wie in Kreuzberg, daß du richtig angezogen sein mußt, um dazuzugehören.« Wenn er heute in den Franz-Club geht, trifft er kaum noch Leute von damals.
»Die alte Szene bricht auseinander und, das ist ja so ähnlich wie in Kreuzberg, es entstehen lauter neue, kleine Szenen mit eigenen Kneipen und Cafés«, beschreibt Sabine Kaulbarsch die neue Situation, »die ,Alteingesessenen‘ sind da ziemlich mißtrauisch. Wenn man zum Beispiel ins Titanic geht, gilt man gleich als Yuppie.« Und ein Yuppie ist Sabine ganz bestimmt nicht. Jetzt studiert die 27jährige an der Freien Universität, aber bis 1990 war sie Kita-Leiterin an der Zionskirchgemeinde und hatte schon dadurch viele Kontakte zur alten Prenzlberg-Szene.
Die Reste dieser alten Subkultur findet man vor allem rund um den Kollwitzplatz. Das Café Westphal gehört noch dazu [längst westokkupiert — die k'in], obwohl es erst im Frühjahr 1990 von Hausbesetzern gegründet wurde. Es definiert sich selbst als Kommunikationszentrum für den Kiez und versucht, durch Lesungen, Work-Shops und Konzerte auch weiterhin ein Forum für die Off-Kultur zu bleiben. Ganz im Gegensatz zum 1900 schräg gegenüber, das zwar auch schon immer zum Kiez gehörte, aber eher ein Geheimtip für gehobene Ansprüche war. Seit dem Mauerfall ist es vor allem ein »Geheimtip« für die linke West-Berliner Schickeria geworden. Fast alle dieser »Übriggebliebenen« haben es allerdings in letzter Zeit schwer, gegen die neue Konkurrenz anzukämpfen, weniger gegen neue Kneipen als gegen die messingblitzenden Neon-Bistros, die sich auch hier mehr und mehr ausbreiten.
Der Bezirk verändert sein Gesicht, Kneipen und Einzelhandel trifft es gleichermaßen. Alteingesessene Geschäfte kapitulieren vor den neuen Mieten, Supermärkte und Videotheken nehmen ihre Plätze ein. Da, wo Sabine wohnt, in der Nähe des U-Bahnhofs Eberswalder Straße (ehemals Dimitroffstraße), wird das besonders deutlich. »Im Prinzip findet hier eine richtige Verdrängung statt. Und das wirkt sich auch auf die Leute aus, die hier leben. Wenn zum Beispiel das Schwulen-Lokal hier an der Ecke schließen muß, fehlt einfach etwas, was die Gegend hier auch ausgemacht hat.« Wenn die Treffpunkte von früher verschwinden, fürchtet die Studentin, gehen mit der Zeit auch die Leute. »Egal, ob Schwule, Künstler oder Oppositionelle, je mehr gehen, desto mehr verändert sich der Kiez.« Wenn die Entwicklung so weitergeht, glaubt sie, wird der Prenzlberg bald auch nur noch ein ganz normaler Bezirk sein. Azizeh Nami
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