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Psychologie und Buntmetall

Die Wendungen und Wandlungen eines russischen Wirtschaftswissenschaftlers: Die Geschichte von einem, der es geschafft hat  ■ Aus Moskau K. H. Donath

Wladimir arbeitete in einem der bekannten wirtschaftswissenschaftlichen Institute in Moskau, die sich früh auf die Seite Gorbatschows schlugen. Er war zwar noch kein Star, doch gehörte zum vielversprechenderen Nachwuchs: Man gab ihm sein eigenes Kabuff, allerdings ohne Telefon. Ein bescheidener und schüchterner Typ war er vor zwei Jahren. Doch, viel wichtiger, er bestach durch die Klarheit seiner Analysen, und er konnte selbständig denken. Ein selten anzutreffendes Phänomen im Reich der sakralen Gesellschaftswissenschaften. Geradezu schwindelerregend, wie er Brauchbarkeit und Verfallsdatum seiner Thesen selbst reflektierte. Doch was ihn ganz und gar von der Intelligenzija unterschied: Ihm fehlte der missionarische Eifer, er hatte nicht immer das abstrakte Ganze im Auge, jenen verlogenen Mechanismus, hinter dem dann doch meist nichts als die eigene Selbstbeweihräucherung steht. Im Gegenteil: bei ihm spielte das Subjekt eine maßgebliche Rolle. Seine theoretischen Überlegungen basierten auf einer Verknüpfung von Ökonomie und Psychologie.

Ein dreiviertel Jahr später, Panzer waren im Baltikum gerollt, in Moskau sollten Truppen eine Demonstration verhindern, Putschgerüchte kursierten, war Wladimir nicht mehr der Alte. Ein Häufchen Angst, das sich ständig widersprach. Seine Gedanken drehten sich nur um eins: Weg hier, doch wie? Da war sie dann wieder, diese Larmoyanz und das überbordende Selbstmitleid der Intelligenzija, die entweder mit den Wölfen heult oder alles ablehnt. Beides offenbart die mangelnde Kraft zur Selbständigkeit.

Kürzlich nun, wieder ein völlig anderer Wladimir. Noch sitzt er in seinem Institut, doch mehr oder weniger pro forma. „Von tausend Rubeln leben?“ meint er verächtlich. Der Institutsdirektor hatte die Wissenschaftler angehalten, etwas mehr zu produzieren. Wladimir reichen seine drei Auslandsveröffentlichungen vom Vorjahr. Die Bar in seiner heimischen Schrankwand nutzte er früher mangels Stoff als Bücherablage. Heute ziert sie eine Flaschenbatterie, vom schottischen Whisky bis zum französischen Cognac. Wladimir ist stolz. Er hat es geschafft. Ständig klingelt das Telefon, auch am Sonntag abend. Er fährt die Antenne aus und verschwindet mit dem drahtlosen Ding im Nebenraum. Business. Seine Kontakte als Ökonom zu Großunternehmen nutzt er jetzt, um abzusahnen. Die unklare Rechtslage begünstigt es. Er macht vornehmlich in Buntmetall und das geht in den Westen. Seine Zulieferer sitzen im militärisch-industriellen Komplex. Konkreter wird er nicht, aber Adressen möchte er. Die Ausfuhr sei zwar verboten. „Aber“, er deutet ein Klümpchen an, „ein Kilo ist so winzig und kostet 2.000 US-Dollar.“ Also kein Problem, es über die Grenze zu kriegen.

Wladimirs Tochter wird in den nächsten Tagen 16 Jahre. Sie geht noch zur Schule. Doch das ist Nebensache. Auch sie hat es schon geschafft - als Mitinhaberin eines Geschäftes. Die erste Million - Rubel versteht sich - ist schon beisammen. Italienische Textilien importiert sie. Der Umsatz im letzten Jahr belief sich auf 40 Millionen Rubel. Wladimir braucht nicht nach Amerika zu emigrieren, der Traum erfüllt sich zu Hause. Und er hat auch schon die Charaktermaske eines aufsteigenden Kleinbürgers übergezogen. Er handelt noch nicht im Einklang mit seiner „neuen Rolle“, glaubt es aber. Wie bei Balzac verraten es die Details. Über seine ehemaligen Kollegen spricht er nur noch abschätzig. Sie ließen die Chance ungenutzt. Auch er sollte als Berater in der Jelzin-Regierung mitwirken. Lehnte es aber ab: „Eine neue Bürokratie und kein Geld“, meint er. Der andere Teil seiner Kollegen, die sich noch vor einem Jahr für die Marktwirtschaft stark gemacht hätten, nun aber darben müssen, seien schon wieder am Umkippen, sagt er verächtlich. Er ist immer dafür gewesen... und immer gegen das System. Nie sei er früher zur Wahl gegangen. Erst seine Frau Anja gibt ihm eine Gedächtnisstütze: „Was erzählst du da...?“ Vielleicht muß man als Unternehmer den Kopf frei haben. Tatkräftige Menschen braucht Rußland und Feinkorrekturen des Selbstbildes kennzeichnen tragende Mittelschichten überall.

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