Abschwung Ost für die Bahnindustrie

Mit der Zerschlagung der ostdeutschen Schienenfahrzeugbranche wird eine industriepolitische Chance verspielt  ■ Von Florian Marten

Ein Lehrstück verpatzter Industriepolitik bietet derzeit die ostdeutsche Bahnindustrie. Bei der Privatisierung des größten europäischen Eisenbahnwaggonherstellers, der Deutschen Waggonbau AG (DWA), droht der Treuhand eine weitere Pleite. Nachdem die Behörde zunächst Preussag und AEG in das derzeit noch 12.000 Mitarbeiter zählende Unternehmen einbeziehen wollte, soll nun ein Konsortium aus den Branchenführern Siemens, ABB und AEG die DWA übernehmen.

Das hohe Risiko der von Ost- Exporten abhängigen Waggonbau hatte die ersten Interessenten abgeschreckt; AEG und Preussag wollten ihre Kaufoption nicht mehr wahrnehmen. Durch die Zahlungsunfähigkeit russischer Großabnehmer ist der Ostkonzern in Existenznöte geraten, obwohl es zweimal gelungen war, mit Hilfe von Hermes-Bürgschaften Eisenbahnwaggons für zusammen 2,6 Milliarden Mark nach Moskau zu liefern. Doch Bahnexperten befürchten, daß die Westkonkurrenten aus der Schienenfahrzeugbranche die DAW nur ausschlachten wollen. Die Industrie dagegen pocht auf eine Strukturbereinigung der ihrer Ansicht nach durch Überkapazitäten gekennzeichneten gesamtdeutsche Waggonbauindustrie. Das Ost- Geschäft ist unsicher; der Einstieg in die gut besetzten Westmärkte wird als schwierig erachtet.

Dabei scheint vor den europäischen Bahnindustrien eine große Zukunft zu liegen: In Westeuropa soll sie in den nächsten zehn Jahren ihre Kapazitäten verdoppeln, in Osteuropa ist die gesamte Infrastruktur zu sanieren. Schon die 50 bis 100 Milliarden Mark, die in den Ausbau des deutschen Eisenbahnnetze fließen sollen, kommen den Hoflieferanten der Bahn zugute. Was läge also näher, als sich intensiv an der Bahn-Renaissance zu beteiligen?

Ost-Bahnindustrie wird stückweise zerschlagen

In kaum einem anderen Bereich konnte die Ost-Schwerindustrie ähnliche Qualitäten aufweisen wie gerade in der Bahnindustrie. Doch statt auf deren industrielles Fertigungs- Know-how zu setzen und damit einen zukunftsträchtigen Industriezweig auszubauen, wird die ostdeutsche Branche zerschlagen. So durfte sich AEG das Lokomotivwerk Henningsdorf unter den Nagel reißen; von den 9.000 Arbeitsplätzen werden letztendlich höchstens 1.100 übrig bleiben. Wieviele Beschäftigte nach der Privatisierung der DAW übrig bleiben werden, vermag niemand zu sagen. Die ebenfalls auf Weltmarktniveau produzierenden ostdeutsche Signaltechnikindustrie ist bereits fast vollständig abgewickelt.

Währenddessen bereiten sich die großen Schienenfahrzeugunternehmen und Bahnausrüster Siemens, ABB, LHB, SEL und Waggonunion auf den europäischen Binnenmarkt vor. Ab 1993, wenn die nationalen Eisenbahnmonopole fallen, müssen alle Aufträge europaweit ausgeschrieben werden. Die Branchenriesen befürchten, daß damit auch der Bahnindustrie-Standort Westdeutschland in Gefahr gerät. Siemens und ABB haben deshalb bereits ihre Produktion internationalisiert: Die lukrativen neuen Hotelzüge werden in Spanien gebaut, die Herstellung der neuen City-Bahn-Wagen wurde nach Italien vergeben. Siemens will zudem mit der Übernahme des CSFR-Mischkonzerns Skoda auf dem boomenden Markt für Bahntechnik an die Branchenspitze fahren. „Die Chance, bis 1993 eine schlagkräftige und konkurrenzfähige ostdeutsche Bahnindustrie zu erhalten und zu modernisieren“, so Bahnexperte Hinrich Krey vom Hamburger Ingenieurbüro SCI, „wurde fahrlässig verspielt.“

Weltmarktniveau im ostdeutschen Waggonbau

Dabei hatte die DDR-Bahnindustrie die westdeutsche Konkurrenz in einigen Bereichen überflügelt. In den lukrativen Sparten Lokomotivbau, Waggonbau und Signaltechnik lagen die Produktionskapazitäten weit über dem West-Niveau. Während beispielsweise der westdeutsche Waggonbau in Zehner-Stückzahlen auf Manufakturniveau betrieben wurde, klotzte der VEB-Schienenfahrzeugbau dank großindustrieller Serienfertigung in den Standorten Bautzen, Görlitz, Ammendorf und Niesky mit Tausender-Stückzahlen. Innerhalb des Comecon war die DDR der zentrale Waggonbaustandort — und das mit Weltmarktniveau: Die Betriebe entwickelten neue Technologien, beispielsweise die neuartige Sandwichbauweise. Die DDR-Signaltechnik hatte ebenfalls ein ausgereiftes rechnergesteuertes System aufzuweisen.

Lokomotiven, Signaltechnik und vor allem Waggons wurden aber nicht nur in die osteuropäischen Nachbarstaaten exportiert, sondern auch nach Griechenland, Nordafrika, Indien und Südamerika geliefert. Sogar einen Auftrag der privaten Combiwaggon in Eltville über 300 hochwertige Güterwaggons konnten die Waggonwerke in Niesky 1990 gegen eine starke internationale Konkurrenz an Land ziehen.

Einkauf der Bundesbahn geht am Osten vorbei

„Alle Einkäufer der Deutschen Bundesbahn sind aufgefordert, jede nur denkbare Möglichkeit zu nutzen, Anbieter aus den neuen Bundesländer in den Wettbewerb einzubeziehen und diesen Firmen eine faire Chance zu geben.“ Für Wolfgang Gemeinhardt, Chefeinkäufer der Bundesbahn, ist die Verantwortung für den Aufschwung Ost keine Frage. Schließlich gilt es die Möllemann-Richtlinie zu beachten, die eine bevorzugte Berücksichtigung von Ost-Betrieben vorschreibt. Mit mehr als vier Milliarden Mark Materialeinkauf gehört die DB zu Europas größten Einkäufern. Diese Marktmacht ist durch die noch selbständige Deutsche Reichsbahn (DR) weiter gestiegen. Bereits seit dem Frühsommer 1990 koordinieren die Bahnen ihre Einkaufspolitik. Zweistellige Millionenbeträge habe man bereits durch den gemeinsamen Materialeinkauf gespart, jubelt die Fachpresse und notiert erfreut, daß allein im ersten Halbjahr 1991 an mehr als 60 Firmen in den neuen Bundesländern Aufträge im Wert von mehr als 100 Millionen Mark vergeben wurden.

Doch die Freude trübt sich schnell. So verwundert beispielsweise, wenn Chefeinkäufer Gemeinhardt als ersten Erfolg der gemeinsamen Einkaufsstrategie den Mitte 1990 erfolgten Vertragsabschluß bei einem bundesdeutschen Autohersteller über die Lieferung von 600 Fahrzeugen für die Reichsbahn feiert.

Auch eine genauere Betrachtung der 100-Millionen-Aufträge, die bis Mitte 1991 in den Osten gingen, dämpft jeden industriepolitischen Optimismus: es handelt sich ausnahmslos um Werkstoffe, Paletten, Schotter, Laternen, Blecharbeiten, Isoliermaterial, Desinfektionsmittel, Kraft- und Schmierstoffe und Sanitärmaterial. Aus diesem Material ist wohl kaum ein Weltmarkt- Winner geschnitzt. Auch die direkten Aufträge der Bundesbahn an die Reichsbahnschwester sind nicht gerade vom feinsten: Instandhaltung alter Güterzuglokomotiven, Umbau veralterter Nahverkehrswaggons und ein paar weitere kleine Umbau- und Instandhaltungsaufträge. Die Bundesbahn kauft ein, bestimmt die Standards und setzt die Normen — die Eisenbahnindustrie im Osten geht leer aus.