piwik no script img

„Günstige lokale Voraussetzungen“

In Berlin-Buch wurde im Januar das Centrum für Molekulare Medizin eröffnet. Der Wissenschaftsrat will dort „bislang einmalige Forschungsbedingungen“ schaffen. Der Direktor hofft auf „spezielles Krankengut“  ■ VON SUSANNE HEIM

Aufbau, soweit das Auge reicht: In Berlin-Buch wird seit Jahresbeginn das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin aufgebaut. Die Großforschungseinrichtung ist als Vorzeigeprojekt gedacht — sowohl für die Integration von WissenschaftlerInnen der Ex- DDR als auch für das „hohe ethische Verantwortungsbewußtsein“, mit dem in Buch Gentechnik betrieben wird. Darüber hinaus sollen dort mit Hilfe eines „völlig neuen Konzepts“ die Schranken des medizinischen Wissenschaftsbetriebes gesprengt werden. Betritt man den etwa 30 Jahre alten, schon etwas heruntergekommenen Plattenbau des Max-Delbrück-Centrums in Berlin-Buch, so riecht es nach Farbe und frischem Anstrich — hier entsteht eine „Großforschungseinrichtung neuen Stils“, das Centrum für Molekulare Medizin.

In einer Art Aufenthaltshalle, die an das etwas zu groß und zu luxuriös geratene Wartezimmer eines Zahnarztes erinnert, hängt ein programmatisch gemeinter Wandteppich aus alten Zeiten: Paradieslandschaft, Wasser und Fische, Himmel und Vögel, am rechten Rand eine nackte Frau mit Kind auf dem Schoß, ihr linker Arm ruht auf einer Erdkugel. Die Frau blickt auf einen Baum vis-à-vis, um dessen Stamm sich die Schlange windet. Jedenfalls um das untere Ende. Weiter oben verliert sich das mythologisch befrachtete Tier in eine Doppelhelix, die schematisierte Darstellung der DNA. Genetik als große Versuchung; wer ihr erliegt, wird zur Strafe aus dem Paradies vertrieben.

Die Arbeit des Centrums für Molekulare Medizin ist in drei Schwerpunkte untergliedert: Humangenetik, Zellphysiologie und Diagnose, Therapie und Prävention von Krankheiten. In dem Zentrum, das offiziell am 1. Januar dieses Jahres in Betrieb genommen wurde, sind drei der renommiertesten medizinischen Forschungseinrichtungen der ehemaligen DDR zusammengefaßt, die Zentralinstitute für Molekularbiologie, für Herz- und Kreislaufforschung und für Krebsforschung. In diesen Instituten arbeiteten bis zur Vereinigung insgesamt 1.600 MitarbeiterInnen, 360 werden in das neugegründete Max-Delbrück-Centrum (MDC) übernommen. Von denjenigen, die nicht weiterbeschäftigt werden, sollen einige gleich nebenan, in dem ebenfalls im Aufbau befindlichen, privat betriebenen Zentrum für Biotechnologie weiterforschen.

Bis an die Grenzen der Akzeptanz

Der Gründungsdirektor des MDC, Professor Detlev Ganten, ist der einzige, der aus den alten Bundesländern, vom Krebsforschungszentrum in Heidelberg, nach Berlin-Buch gekommen ist. Ganten, ein agiler Mittfünfziger, renommierter Pharmakologe mit Erfahrungen beim Aufbau von Großforschungseinrichtungen, geht seine neue Aufgabe mit Elan an. Im Gegensatz zur vorsichtigen Botschaft des Wandteppichs aus den Zeiten des sozialistischen Realismus bedeutet die Genetik für Ganten eher Verheißung als tückische Versuchung. Auch er ist, versteht sich, „kritisch“. Seine Devise lautet: Man müsse ersteinmal alle Möglichkeiten erkunden, ablehnen könne man sie dann immer noch. Er hält sich „an die Grenzen gesellschaftlicher Akzeptanz“. Daß die variabel sind, gesteht er durchaus zu. Nicht zuletzt deshalb liegt ihm die Öffentlichkeitsarbeit besondes am Herzen. Die Gentherapie abzulehnen, hält Ganten den Kranken gegenüber für ethisch nicht vertretbar — sie soll zum Schwerpunkt des Zentrums ausgebaut werden. In solchen Eingriffen in das menschliche Erbgut sieht er ethisch keinen Unterschied zur Organtransplantation. Die Frage, ob er auch Eingriffe in die Keimbahn — also vererbbare Veränderungen der Gene — befürworte, beantwortet Ganten mit dem Hinweis darauf, daß diese bislang ohnehin verboten seien. Außerdem will er in Buch eine Ethikkommission einrichten, die aus „Leuten mit gesundem Menschenverstand, Theologen, Juristen, Krankenschwestern und Menschen von der Straße“ bestehen und über heikle Fragen beraten soll.

Das Konzept des MDC wurde nach den Empfehlungen des Wissenschaftsrats von einer Kommission unter Vorsitz von Professor W.F. Bodmer vom Imperial Cancer Research Fund, London ausgearbeitet. Die übrigen neun Mitglieder des Gründungskomitees sind Professoren aus Universitätskliniken und Forschungsinstituten in Heidelberg, Freiburg, Köln, München, Leipzig und Basel. „Das Neuartige am Konzept“, so schwärmt das Wissenschaftsmagazin 'Bio Engineering‘, „ist, daß hier nicht mehr einzelne Krankheiten erforscht werden, sondern daß fachübergreifend die grundlegenden molekularbiologischen Gemeinsamkeiten verschiedener Krankheitsgruppen untersucht werden, um so neue integrative Konzepte zur Diagnose, Therapie und Prävention zu gewinnen. [...] Projektorientierte Forschergruppen sollen methodisch orientierte Institute und Kliniken ersetzen. Sie finden sich zeitlich befristet in Forschungsschwerpunkten zusammen, deren Mitglieder die Methoden und Denkweisen verschiedener Disziplinen einbringen sollen: Um die Erkenntnisse der Grundlagenforschung rasch in die klinische Praxis umzusetzen.

Kurzer Weg vom Labor zum Krankenbett

Die enge Verbindung zwischen experimenteller Forschung und klinischer Anwendung soll insbesondere durch die institutionelle Anbindung zweier Krankenhäuser gewährleistet werden, die Herz-Kreislauf-Klinik mit 80 Betten und die Robert-Rössle- Klinik mit 200 Betten. Um zu verhindern, daß sie sich zu bloßen Experimentierstationen für die Forschung entwickeln, werden die Kliniken einem „nichtkommerziellen, kirchlich gebundenen Träger unterstellt“, betont Professor Ganten, sichtlich bemüht, die Bedenken zu zerstreuen, daß die Patienten möglicherweise als Versuchsobjekte mißbraucht werden könnten. Natürlich habe man Interesse an einem „speziellen Krankengut“. Gemeint sind Patienten, an denen besondere Phänomene oder Krankheiten beobachtet werden können. Man wolle sich, wie Ganten sich ausdrückt, „nicht 20 Blinddärme in die Klinik legen“. Auch mit den übrigen in Buch angesiedelten Kliniken mit insgesamt 1.850 Betten wird das MDC kooperieren.

„Große Tradition“: Forschung in Buch

Die enge Verbindung von Klinikbetrieb und Forschung ist so bahnbrechend nicht, wie in den Selbstdarstellungen des MDC gern behauptet wird. Sie hat Tradition, die ein dreiviertel Jahrhundert zurückreicht. Als in Buch noch das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung (KWI) residierte, war diese Verbindung bereits selbstverständlich. Anfang der 40er Jahre wurden dort die Gehirne von Psychiatriepatienten seziert, die im Rahmen der „Euthanasie“-Aktion ermordet wurden. Das Insitut bestellte damals die Gehirne von Kranken mit speziellen noch unerforschten Krankheiten und stellte einige Mitarbeiter in die Mordzentren ab, die die „interessanten Fälle“ sofort nach der Ermordung der Menschen sezierten. Zuvor waren an den Lebenden, ebenfalls auf Wunsch des KWI, noch bestimmte Untersuchungen vorgenommen worden. Wahrscheinlich unterhielt das KWI auch in Buch selbst eine Abteilung, in der — wie in anderen Kliniken auch — Patienten zu Forschungszwecken aktiv getötet wurden. Die Rechtsnachfolgerin des Instituts, das Max-Planck- Institut für Hirnforschung in Frankfurt a.M. konnte sich erst vor zwei Jahren dazu entschließen, die für die wissenschaftliche Benutzung präparierten Gehirnteile der Ermordeten beizusetzen.

Der Physiker Max Delbrück (1906-1981), der Namenspatron des neuen Zentrums, gilt als Wegbereiter der Molekularbiologie. Delbrück arbeitete, bis er 1937 als Rockefeller-Stipendiat in die USA ging, in der genetischen Abteilung des KWI in Berlin-Buch. Dort versuchte er zusammen mit dem russischen Genetiker Nikolai Wladimirowitsch Timofeef-Ressovski und dem Radiologen Karl Günther Zimmer die Struktur der Gene und die Entstehung von Mutationen zu erklären.

Auch unter DDR-Verhältnissen war Buch ein international anerkanntes Renommierstück genetischer und medizinischer Forschung. Laut Ganten ist das „gute wissenschaftliche Potential aus den Vorläuferinstituten“ in das „völlig neue Konzept des MDC eingebaut“ worden. Über die Einstellung ehemaliger DDR-Wissenschaftler sei, so Ganten, streng nach Qualifikation und nach der Möglichkeit einer sinnvollen Weiterbeschäftigung entschieden worden — unabhängig davon, ob die MitarbeiterInnen einer Partei angehörten oder „dem Widerstand“, was immer das in Buch zu DDR-Zeiten geheißen haben mag.

Vor etwa einem Jahr war das ehemalige Krebsforschungszentrum in Buch in die Schlagzeilen geraten, weil dort in den 80er Jahren die Produkte westdeutscher Pharmafirmen an Patienten getestet worden waren. Professor Ganten, seit vier Monaten in Buch, sieht sich außerstande, die ganze Geschichte der Klinik aufzuarbeiten: „Wir bauen hier jetzt das Neue auf!“ Diejenigen Mitarbeiter, die am tiefsten in den Skandal verwickelt waren, wie Professor Stephan Tanneberger, haben das Zentrum inzwischen verlassen. Tanneberger war im übrigen nicht nur ein Forscher, der ethische Grenzen mißachtete, vielmehr war er, so unüblich nicht, sein eigener Kontrolleur. Er schmückte sich früher mit dem schönen Titel „Vorsitzender der Ethikkommission des Rates für medizinische Wissenschaft beim Minister für Gesundheitswesen der DDR“. „In einer Diktatur“, so verteidigt Ganten die früheren Mitarbeiter Tannebergers, „sind ja meist ohnehin nicht alle verantwortlich, sondern nur die Mächtigen, die ganz oben sitzen. Die anderen bekommen gesagt, daß sie Medikamente verabreichen sollen, und wissen gar nicht, was sie da tun.“

Nach zwei Jahren, wenn die Zeitverträge der meisten MitarbeiterInnen auslaufen, soll dann entschieden werden, wer sich bewährt hat und wer nicht. Im vergangenen Jahr hatte der Wissenschaftsrat die drei Forschungszentren der ehemaligen DDR evaluiert, die heute den Grundstock des MDC bilden. „Um eine flexible Infrastruktur zu erhalten“, soll nach dem Ergebnis der Evaluierung auch in Zukunft nicht mehr als 20 bis 30 Prozent des wissenschaftlichen Personals eine unbefristete Anstellung erhalten. Anvisiert wird ein Personalbestand von 600 wissenschaftlichen MitarbeiterInnen. 350 von ihnen sollen aus dem regulären Etat des Zentrums, derzeit 60 Millionen Mark, bezahlt werden, die anderen aus Drittmitteln. Schon jetzt gibt es Zusagen über Drittmittel in Millionenhöhe, weitere Gelder sollen von den Forschungsgruppenleitern selbst eingeworben werden — auch dies ein Bestandteil der „Bewährungsprobe“, die die MitarbeiterInnen in den nächsten zwei Jahren abzulegen haben. Dabei ist sowohl an Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft gedacht, als auch an industrielle Forschungsprojekte.

Zusammenarbeit mit Unis und Industrie

Neben einer Zusammenarbeit mit Industrieunternehmen ist auch die Integration „kompatibler Universitätsinstitute geplant“. Allen voran die Berliner Humboldt-Universität. Auf diese Weise soll nach den Vorstellungen des Wissenschaftsrats die „eher traditionell ausgerichtete Biologie der Humboldt-Universität“ gleich mit modernisiert und um molekular- und zellbiologische Disziplinen ergänzt werden. Nach den Vorstellungen des Wissenschaftsrats geht es darum, die „günstigen lokalen Voraussetzungen“ in Buch zu nutzen, um „hier eine für die Bundesrepublik Deutschland neue Struktur zu schaffen“: Forschungsbedingungen wie sie „in dieser Art weder in der bisherigen Bundesrepublik noch in der ehemaligen DDR realisiert waren“. Dabei wurde keineswegs das gesamte DDR-Erbe über Bord geworfen. In Buch ist nicht so abgewickelt worden wie an vielen anderen DDR-Instituten und -Universitäten. Hier wurden die Forschungsprojekte aus den Renommierinstituten der DDR übernommen. Daran bestand großes Interesse. Verändert wurde die Arbeitsstruktur — nicht mehr und nicht weniger. Ganten: „Wir machen hier keinen Sozialplan.“

Von besonderem Reiz für ambitionierte ForscherInnen sind nicht zuletzt die Datensammlungen aus DDR-Zeiten. In Buch stehen das Krebsregister der ehemaligen DDR sowie umfangreiche Datenerhebungen über Menschen, die an Muskeldystrophie und cystischer Fibrose leiden und litten. Der Wissenschaftsrat sieht in dem „guten System der Erfassung von Familien mit monogen bedingten Defekten [Erkrankungen, die durch nur ein Gen hervorgerufen werden, d.Red.] in dem Bereich der ehemaligen DDR und [der] weitere[n] Betreuung durch eine genetische Ambulanz“ eine wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung der pränatalen Diagnostik am Humangenetischen Institut des MDC. „Diese Arbeiten lassen Ergebnisse erwarten, die sich in den Rahmen der weltweit betriebenen Analyse des menschlichen Genoms einfügen können.“

„Gutes System der Erfassung“

Für die ForscherInnen aus dem Westen sind die Datensammlungen ein unermeßlicher Schatz, hatten sie doch im Unterschied zu ihren DDR- KollegInnen nicht die Möglichkeit, derartig umfangreiche Daten über die Krankheiten einzelner Menschen zu sammeln. Die Krebsregister zum Beispiel sind in der alten Bundesrepublik Ländersache und unterliegen den Bestimmungen des Datenschutzes. In den DDR-Registern sind dagegen die Krebskranken der gesamten Republik nach einheitlichen Kriterien erfaßt worden — „mit über 200.000 Fällen eine einzigartige Datensammlung“, wie der Wissenschaftsrat feststellt. Obwohl die Datensammlungen also unter Bedingungen erstellt wurden, die den bundesdeutschen Bestimmungen widersprechen, da auch die vollständigen Personaldaten miterfaßt sind, ist bislang keine Rede davon, diese Daten zu vernichten. Diskutiert wird lediglich, die Dateien zu verschlüsseln und personenbezogene Daten nicht weiterzuverwenden. Der Wissenschaftsrat will den „Erhalt und die Weiterführung bereits bestehender Register grundsätzlich [...] fördern“ und hat die neuen Bundesländer aufgefordert, „die entsprechende Rechtsgrundlage für die Weiterführung herzustellen“.

Auch Direktor Ganten würde das Register gerne weiterführen lassen, aber die Entscheidung darüber liegt zu seinem Bedauern nicht in seiner Macht. Gantens wissenschaftliches Spezialgebiet, das er auch als Direktor des MDC nicht aufgeben möchte, ist die Hypertonieforschung. Bluthochdruck, so sagt er, sei eine „Volkskrankheit“, die bislang nur medikamentös behandelt werden könne. Seit kurzem hat Ganten jedoch zusammen mit einigen Kollegen zwei Gene nachgewiesen, die Bluthochdruck kodieren. Bei seinen Forschungen arbeitet er auch mit transgenen Tieren, in deren Keimbahn er die Bluthochdruckgene eingeschleust hat, um den Nachweis dafür zu erbringen, daß auch die Nachkommen dieser „Tiermodelle“ Bluthochdruck haben.

Die Versuchung, nun auch beim Menschen die „Volkskrankheit Bluthochdruck“ mit Hilfe von Eingriffen in die Keimbahn ein für alle mal zu überwinden, gesteht Ganten freimütig ein. Auf die Frage, ob man die Folgen einer solchen gentechnischen Veränderung des Menschen überhaupt abschätzen könne, entgegnet er: „Natürlich nicht!“ Darum müsse man alles in kleinen überschaubaren Schritten erkunden, so wie es schon der Positivist Karl Popper in seiner Wissenschaftstheorie gefordert habe. Dagegen seien pauschale Verurteilungen wenig hilfreich, und die katholische Kirche habe schon viel Schaden angerichtet. Neben der geplanten Ethikkommission ist am Institut jetzt auch ein „Human Relation Project“ gegründet worden. Unter dem Motto „im Mittelpunkt der Mensch“ will die Belegschaft in Buch „einen ethischen Konsens“ finden. Ziel des Projekts ist es, wie es am Schwarzen Brett heißt, „als mündige Bürger eines nunmehr geeinten Landes das MDC zu gestalten“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen