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Süßer Jungbrunnen

■ Eine Video-Nonsensveranstaltung in Berlin

Ein Fernsehtag, das sind mindestens drei bunte 'Hör zu‘-Doppelseiten, von denen zwei sämtliche Spielfilm- Fotos zeigen, während sich die dritte auf kleingedruckte Litaneien (Privatprogramme) erstreckt. Der Liebreiz eines solchen Tages ist unverkennbar. Vierundzwanzig Stunden vergehen ganz unbemerkt. Vor allem aber: Der Zuschauer fühlt sich so jung als wie zuvor.

Warum das so ist, demonstrierten die „Pure Chance Productions“, eine Firma für Zufallsfabrikate. In einer wüsten Nonsensshow mit Dias und Videofilmen inszenierte die Werbetexterin Cosima Reif das definitive Fernsehen im „Studio für Bildende Kunst“ in Berlin-Treptow — als Lacherfolg. Kohl, Margarine, Jelzin und Suppenterrine jagten da — fast wie per Zufallsgenerator verteilt — über den Bildschirm. Bananen fallen aus der Röhre, Fleurop-Blumen sprießen dem mitfühlenden Glotzer aus der Schädeldecke.

Ungerührt hält Cosima Reif ihren Vortrag. Denn strenggenommen lassen sich drei Fernsehgenerationen unterscheiden. Erstens das „telekategorische Zeitalter“ (1950-1970): Für jeden Nachkriegsdeutschen ist „Hör zu“ noch ein Befehl. Die Frauen auf den Titelblättern sind so seriös wie das Programm. Der Spielfilm ist noch nicht erfunden. 1971 wird dieses Zeitalter von einer zweiten Ära abgelöst, dem „Fernsehen als Haustier“. In der 'Hör zu‘ umfaßt es zwei übersichtliche Doppelseiten, unterteilt in „tagsüber“ und „abends“. Das Programm ist noch freundlicher und pflegeleichter. Um 2 Uhr nachts schaltet es automatisch ab. 1992 schließlich ist es besser als jeder Creme-Tiegel und jede Fit-for- Life-Diät. Gemeinsam mit Liz Taylor oder Thomas Gottschalk kann sich der Zuschauer via Glotze um Jahre verjüngen. Dem mitfühlenden Röhrengucker sprießt bei Cosima Reif im Gegenschnitt gar das Gras aus den Ohren, wenn es „Heidi!“ ruft auf der Alm...

In gnadenlos sarkastischem Ton zertrümmern die „Pure Chance Productions“ den heiligen Ernst der Fernsehzuschauer. Je wissenschaftlicher, desto absurder wird der Vortrag. Denn Cosima Reif weiß, was sie da tut. Wenn sie nicht gerade für Häagen-Dazs („Ein Eis für den Preis von drei“) die Käuferseelen zum Schmelzen bringt, leistet sie sich Nonsens vom feinsten. 1986 hat sie mit einem Freund die „Pure Chance Productions“ ins Leben gerufen. Seither schlägt sie das Fernsehen mit seinen eigenen Waffen, zur Triebabfuhr und vor handverlesenem Publikum. „Wo so viel Stumpfsinn ist, da muß man — wie es Dada getan hat — noch eins draufsetzen“, sagt Reif. Wer aber glaubt, nur in ihren Nonsensproductions fände sich die richtige, die wahre Cosima, der sei belehrt: „Als Werbetexterin wie als Künstlerin betreibe ich vor allem eins: Endzeitfolklore.“ Mirjam Schaub

Am 3.4. um 21 Uhr in Berlin-Treptow in der Baumschulenstr.78.

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