: „Dir selbst sei treu!“
■ Kaum eine lesbische Identifikationsfigur: Vita Sackville-West wäre heute 100 Jahre alt geworden
Als wir heirateten, warst Du älter als ich und wußtest viel besser Bescheid. Ich war sehr jung und sehr unschuldig, ich wußte nichts von Homosexualität. Ich wußte nicht einmal, daß es so was gab, weder zwischen Männern noch zwischen Frauen. Du hättest es mir sagen sollen. Du hättest mich warnen sollen.“
So schrieb Victoria Mary (Vita) Sackville-West nach 43 Ehejahren an ihren Mann Harold Nicolson. Die Bitte ist wohl eher rhetorisch als wörtlich aufzufassen: denn was könnte schon eine solche Warnung bewirken, wird sie von einem notorischen Schwulen, Harold, einer notorischen Lesbe, Vita, gemacht? Zutreffend ist, daß sie von Harolds Homosexualität erfährt, als sie bereits vier Jahre mit ihm verheiratet ist, zwei Söhne und eine Fehlgeburt aus der Beziehung hervorgegangen sind und die Familie ein konventionell- großbürgerliches Leben zwischen London und Kent führte. Die aus britischem Hochadel stammende Vita hatte 1913 den bürgerlichen, aber ambitionierten Botschaftsangehörigen Harold geheiratet, und einige Zeit hatte alles danach ausgesehen, als würden in britischer Manier alle Konventionen gewahrt.
Jedoch, nach seinem Coming-Out folgt sogleich das ihrige: 18.April 1918: „Violet hatte das Geheimnis meines Doppellebens entdeckt; sie griff mich deswegen an, und ich unternahm keinen Versuch, es vor ihr oder mir zu verbergen.“ Die Jugendfreundin wird zur Geliebten, und Vita und Violet verlassen die Wohlanständigkeit Englands, um auf dem Kontinent miteinander zu leben. Es ist eine Zeit heftigster Leidenschaft — Vita in Männerkleidung, Tanzbälle in Paris und Monte-Carlo. Nach Monaten werden die Frauen von ihren Ehemännern in Amiens gestellt, und nach einem Streit mit ihrer Geliebten kehrt Vita zu Mann und Kindern zurück. Nachzulesen ist die Geschichte in den von ihrem Sohn Nigel veröffentlichten Aufzeichnungen aus dem Jahr 1920 (Portrait einer Ehe). Dort schreibt sie, sich zu Offenheit verpflichtend: „Ich glaube, daß dann (im Laufe der Jahrhunderte) die Psychologie von Menschen wie mir von Interesse sein und man erkennen wird, daß viel mehr Menschen meines Typs existieren, als unter dem heutigen System der Scheinheiligkeit allgemein zugegeben wird.“
Aber weder Vita noch Harold machen aus ihrer Sexualität ein Politikum. Vita ist kaum eine lesbische Identifikationsfigur: hin- und hergerissen zwischen Familie und wechselnden Leidenschaften, der Sehnsucht nach Abenteuer und einem immer stärker werdenden Konservatismus, ist sie eine ebenso zwiespältige Persönlichkeit wie Schriftstellerin. Seit ihrer Kindheit schreibt sie — auch, um den heranstehenden Verlust ihres Heimatschlosses Knole (als Tochter ist sie nicht erbberechtigt) zu kompensieren. Sie ist begabt und trifft in ihren Romamen den Geschmack der Zeit. Seit 1919 ist die Erfolgsautorin, eine, wie Leonard Woolf, ihr zukünftiger Verleger, sagen wird, „ehrliche, schlichte, gefühlvolle, romantische, naive und sachkundige Schriftstellerin“. Ihre Geschichten sind auch heute noch mindestens ebenso spannend wie viele, die man uns tagtäglich erzählt, wobei sie den entscheidenden Vorteil haben, sich als das auszuweisen, was sie sind: Erfindungen. (Dennoch: Liest man Vitas Romane, so hat man häufig das Vergnügen, Züge von ihr in den männlichen Protagonisten zu entdecken.)
Zu Beginn der zwanziger Jahre trifft Vita, die Realistin, auf Virginia Woolf (1882-1941), die Visionärin. In den zwei Dekaden bis zu Virginias Selbstmord entwickelt sich zwischen den Frauen eine Beziehung, die von neugierigem Interesse („Sie ist eine erklärte Anhängerin Sapphos, und könnte, wie Ethel Sands vermuttet, ein Auge auf mich geworfen haben, alt wie ich bin...“, Virginias Tagebuch, 1923) über Leidenschaft („Ich bin reduziert auf ein Wesen, das sich nach Virginia sehnt...“, Vita an Virginia, 1926) bis hin zu Eifersuchtsszenen (Vitas „Untreue“!) und tiefer Zuneigung reicht. Sie ergänzen sich: ist Virginia intellektuell, so ist Vita mütterlich. Ein Zeugnis der facettenreichen Freundschaft ist ihr Briefwechsel.
Liest man Virginias oben angeführtes Zitat bis zum Ende, so steht da: „...snobistisch, wie ich, verlege ich ihre (Vitas) Leidenschaft 500 Jahre zurück, und sie erscheint mir wie alter, gelber Wein.“ Das ist Literaturgeschichte, denn die Liebesgeschichte der beiden Frauen findet ihren fiktiven Niederschlag in dem, wie Nigel Nicolson sagt, „längsten und bezauberndsten Liebesbrief der Literatur“, Virgina Woolfs Orlando (1928). Vita ist ihr Vorbild, und der Text demonstriert auf jeder seiner spielerischen Ebenen, was aus der Ambivalenz sowohl der ihm zugrunde liegenden Person als auch des Protagonisten selbst formulierbar ist.
Vita ist ihren Söhnen, die sie etwas unbeholfen liebt, keine ebenso gute Mutter, wie sie es für Virginia sein kann. Lediglich, als ihr Älterer eine Liebesgeschichte mit einem Mann hat, reagiert sie — das sollte nach allem nicht wundern — aufgeschlossen und verständnisvoll. Sie ist eine erfolgreiche, aber stilistisch konventionelle Autorin und keine „gute Ehefrau“. An Politik nicht interessiert und vom Gesellschaftlichen abgestoßen, widmet sie seit den dreißiger Jahren den Großteil ihrer Zeit der Gartenarbeit auf ihrem Schloß Sissinghurst. Harold, nach einigen Jahren in Persien, wohin auch Vita Reisen gemacht hat, ist seit 1931 in London. Mal kandidiert er für die Konservativen, dann für die Liberalen. Sein Ehrgeiz gilt dem Unterhaus, und für einige Jahre schafft er es.
Während Harold und Virgina sich um den drohenden Krieg sorgen, beschäftigt sich Vita in ordentlich gereimten Gedichten mit der bäuerlich- ländlichen Kultur Englands. Auf ihre Weise ist keiner der Ehepartner heldenhaft zu nennen.
Moralischen Beistand allerdings geben sich Harold und Vita, meist brieflich, über all die Jahre. Als Vitas Mutter im Hahr 1936 in paranoidem Wahn stirbt, Virginia sich ertränkt und Vita ihr schriftstellerisches Mittelmaß erkennt, ist er da, um sie zu trösten. Sie schwankt zwischen Alkoholismus und Mystizismus (Adler und Taube) und wechelnden Geliebten, findet aber nach dem Krieg ihre Ruhe darin, sich für wohltätige Zwecke und ihren Garten, der seit 1938 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, zu engagieren. So hat sie wöchentliche Sendungen im Radio, wo sie über Parkgestaltung referiert.
In den letzten Jahren vor ihrem Krebstod am 2.Juni 1962 flackert die Abenteuerlust noch einmal auf: Sie unternimmt mit Harold Seereisen nach Indien und Südamerika. In ihrer Widersprüchlichkeit entzieht sich Vita Sackville-West ideologischer Verfügbarkeit. Nicht uns ist sie verpflichtet, sondern ihrem Motto: „Dir selbst sei treu!“ Vielleicht beinhaltet dieser Versuch das größte Wagnis.Katharina Scharlowski
Erloschenes Feuer. Roman, 8,80DM
Adler und Taube. Roman, 14,80DM
Pepita. Eine Biographie, 8,80DM
Eine Frau von vierzig Jahren. 12,80DM
Frühe Leidenschaft. Roman, geb., 34DM
Aus meinem Garten. 12,80DM.
Die Herausforderung. Roman, 16,80DM
Schloß Chevron. Roman, 14,80DM
Der Teufel von Westewase. Roman, 12,80
Weg ohne Weiser. Roman, 9,80DM
Zwölf Tage in den Bakhtiari-Bergen. Eine Reiseerzählung, 9,80DM
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