„Wir sind bereit, auf zum Streik“

Vom Verzicht der Millionen mag niemand mehr etwas hören/ Die Basis der ÖTV schrie in Essen ihren Frust heraus/ Bleibt es beim 3,5-Prozent-Angebot, wird sofort abgestimmt und gestreikt  ■ Aus Düsseldorf Walter Jakobs

Am Ende ihre halbstündigen Rede in der Essener Gruga-Halle bekam Monika Wulf-Mathies am Samstag von einem Müllwerker eine große Mülltonne geschenkt: „Nimm die mit zu der nächsten Verhandlungsrunde nach Stuttgart, denn da gehören die verrotteten Angebote der Arbeitgeber rein.“ Danach tobte der Saal in Essen. Das 3,5%-Angebot empfinden die Beschäftigten als eine Provokation. Wer bisher glaubte, die immer wieder zitierte Wut und Verdrossenheit an der Basis als übliche Dramatisierung von Gewerkschaftsfunktionären abtun zu können, den belehrten die rund 8.000 im Saal der Gruga-Halle eines besseren. Als die ÖTV-Vorsitzende für den Fall, daß die Arbeitgeber auf dem 3,5%-Angebot beharren, als einzige Antwort „Urabstimmung und Streik“ ankündigte, da wollte der Beifall nicht enden. Das Echo aus dem Saal ließ Zweifel nicht zu: „Wir sind bereit, auf zum Streik“, skandierten Tausende minutenlang. Betagte Altenpflegerinnen, stämmige Müllwerker und die zahlreich anwesenden Auszubildenen brüllten ihren Frust gemeinsam hinaus. Eine geschlossene ÖTV-Familie, die bei einer Monatsvergütung von 2.587 Mark in der mittleren Lohngruppe weitere Reallohnverluste nicht hinzunehmen bereit ist. Natürlich wissen alle, daß die geforderten 9,5 Prozent und das zusätzliche Urlaubsgeld von 550 Mark am Ende nicht erreicht werden.

Bei der nächsten Verhandlungsrunde am 20. März, so die ÖTV- Chefin, „muß die Entscheidung fallen“. Das letzte „Angebot bedeutet Reallohnverlust und ist für uns indiskutabel.“ Von der eindeutigen Festlegung in ihrem schriftlichen Redemanuskript wich Wulf- Mathies bei ihrem mündlichen Vortrag ab. „Jedes Angebot unter fünf Prozent“, so hieß es noch in der an die Journalisten verteilten Rede, „ist für uns indiskutabel“. Erklärt sich diese Abweichung aus der Angst vor den Reaktionen aus dem Saal? Die Mißfallensäußerungen zum Ende ihrer Rede, als sie davon sprach, daß „wir auch nicht kompromißlos auf unserer Forderung“ beharren, deuten darauf hin. „Doch“, schrien da einige im Saal und erhielten auch dafür Applaus.

Daß die Gewerkschaften — angesichts der Misere in Ostdeutschland — außerhalb ihrer eigenen Reihen Schwierigkeiten haben, ihre Tarifforderungen zu vermitteln, zeigten die Reden selbst. In keiner fehlte die Auseinandersetzung mit dem „Teilen“. Zum „gerechten Teilen“ seien die Gewerkschaften „auch jetzt noch bereit“. Aber, so fuhr die ÖTV-Vorsitzende fort, „schon jetzt finanzieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr als drei Viertel der Transferleistungen für Ostdeutschland, während die Unternehmer nicht einmal 10 Prozent ihrer liquiden Gewinneinkommen in den neuen Bundesländern investieren“. Wer „bombig“ an der deutschen Einheit verdient habe, müsse auch im Osten investieren. Der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer haute in die gleiche Kerbe: „Es ist ein Skandal, daß 670 Milliarden Mark auf den Konten der Besitzer von Kapital und Einfluß liegen, während für den Aufschwung im Osten das Geld aus den Taschen der kleinen Leute zusammengekratzt wird“. Zwar sähen auch die Gewerkschaften, „daß jetzt und zukünftig die Verteilungsspielräume enger“ würden, aber „Maßhalteappelle an die Millionen und maßlose Steuergeschenke an die Millionäre“ seien mit den Gewerkschaften nicht zu machen.

Hans Döhring, Personalratsvorsitzender aus Erfurt und Mitglied der großen Tarifkommission Ost der ÖTV, fiel am Samstag die Rolle zu, als Stimme des Ostens die Forderungen der Kollegen aus dem Westen zu verteidigen: „Eure Erfolge werden auch bei uns wirksam. Jede Mark, die ihr mehr bekommt, schlägt sich mit 60 Pfennig auch bei uns nieder“. Für die Beschäftigten in Ost und West gehe es darum, die „soziale Einheit“ gemeinsam zu schaffen. Da applaudierten die Westler erleichtert, denn die Verzichtsappelle mit Blick auf die soziale Spaltung zwischen Ost und West machen ihnen mehr Sorgen als sie zugeben.

Auch im Westen bläst ihnen der Wind außerhalb der gewerkschaftlichen Räume eher ins Gesicht. Wer wollte, konnte gleich vor der Essener Gruga-Halle davon einen Eindruck gewinnen. Da stand der 74jährige Rentner Friedrich-Wilhelm Geratsch und beschwerte sich bitter: „Wir müssen mit 2,8 Prozent mehr Rente auskommen, und da drin wird über 9,5 geredet. Das ist doch Wahnsinn.“