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Es lebe der Lauf der Dinge

■ Jürgen Gosch inszeniert Tschechows „Onkel Wanja“ im Frankfurter neuen Schauspiel

Eine typisch russische Familiengeschichte in elegischer Landschaft entspinnt sich träge an einem Sommertag. Der abgetakelte Privatgelehrte Alexandr Vladimirovic und seine bedeutend jüngere Frau Jelena sind auf das Gut heimgekehrt, das Alexandrs erster Frau gehörte und von seiner Tochter aus erster Ehe, Sofja, und seinem Schwager Ivan Petrovic Voljnickij, genannt Wanja, gewissenhaft verwaltet wird. Das Gut wirft schon lange nicht mehr genug ab, um Alexandr eine städtische, intellektuelle Existenz „ohne Arbeit“ zu ermöglichen. Also findet man sich mit dem Landleben ab.

Zwischen dem herbeigerufenen Landarzt Astrov, der Alexandrs notorisches Podagra heilen soll, und der jungen, schönen und sich zu Tode langweilenden Jelena bahnt sich eine Affäre an. Alexandr, der das seiner Tochter überschriebene Gut verkaufen will, um sich finanziell zu sanieren und das alte Leben in Würde und Eleganz wieder aufzunehmen, wird von Wanja, der sich auf die Straße gesetzt fühlt, beinahe niedergeschossen. Sofja, die den Arzt Astrov ihrerseits seit sechs Jahren „liebt“, muß zusehen, wie dieser ihrer Stiefmutter Jelena den Vorzug gibt. Als nach einer turbulenten Nacht weder aus dem Gutsverkauf noch aus der Affäre zwische Astrov und Jelena etwas wird, reisen Alexandr und seine Gattin Jelena tags darauf enttäuscht wieder ab. Zurück bleiben Wanja und Sofja, die zerknirscht und bedrückt ihr altes Leben wieder aufnehmen. Astrov beendet das typisch Tchechowsche Spektakel um „Glaube, Liebe, Hoffnung“ mit seiner Abreise. La commedia è finita, stellt er fest, das Leben hat uns wieder.

In Frankfurt brauchte diese Geschichte geschlagene 210 Minuten, um zu ihrem erlösenden Ende zu kommen. Jürgen Gosch, der von Peter Eschberg verpflichtete Regisseur, von dessen Talent man sich nach seinen Regiearbeiten an der Berliner Schaubühne, dem Thalia Theater und der Arbeit in Bochum am Schauspiel Frankfurt einiges erhofft, debütiert am kürzlich erst eröffneten neuen Haus mit dieser klassischen Ausstattungsinszenierung, die hinsichtlich Werktreue nichts zu wünschen übrig läßt. Der kulissenhafte, stilgetreu ausgemalte Bühnenraum von Dietmar Treßmann schafft bewußt historische Enge. Der Kirschgarten im ersten Akt, die nächtliche Küche, der Salon und schließlich das Kontor am Ende lassen den Akteuren nur einen schmalen, flach wirkenden Aktionsraum voller Stolperfallen. Bäume, Sessel und Türen sind zur Häflte nur hübsch gemalt. Die Kostüme sind zeitgenössisch und unaufdringlich. Sehr viel konventioneller und gediegener ist ein Tschechow-Abend kaum zu haben.

Leider trifft das, mit wenigen Ausnahmen, auch auf die schauspielerischen Leistungen zu, die das Gosch-Konzept der Werktreue zwar andeutungsweise erkennbar machen, aber kaum zum Glänzen bringen. Man erahnt einen Regisseur, der Akteure aus dem beliebigen Gefühls-Free-Dance in präzises, literarisches Sprechtheater einüben will. Leider wird nicht viel daraus. Gosch hält sich streng von schrillen, degoutanten oder provozierenden Regie- Gesten fern und stellt den Tschechowschen Text in den Mittelpunkt. Dieser enthält, so spürt man, alles, was flügellahme Utopien, letale Dekadenz und einen hoffnungslosen Weltverfall zum Anlaß haben: unser menschliches Sein. Die als Stilmittel gebrauchte Antiquiertheit der schauspielerischen Ausdrucksmittel, eine fein gehämmerte Dialogregie, das alles in Szene gesetzt, mit an Rembrandt erinnernden Lichteffekten wollen sich gewissermaßen als „Arbeit“ und als „Am-Werk-Sein“ gegen „Everything-Goes“-Konzepte der siebziger und frühen achtziger Jahre durchsetzen. Gosch riskiert stille, gedehnte Passagen, verinnerlichte Monologe und schafft bewußt „russische Längen“.

Das Frankfurter Publikum, das in den letzten Jahren vom Theater alles andere als verwöhnt wurde, nimmt solche leisen Regietöne gewiß als Angebot einer literarischen statt theatralischen Post-Modernität wahr, mag sich sogar von ihnen überrascht und angezogen fühlen. Die weit ausholenden Spannungsbögen, die mit bewußt literarischer Präsenz agierenden Protagonisten als „Kunstfiguren“ erinnern zuweilen an das Regietheater Sellners in Darmstadt. Gosch zeigt seinen Wanja als ein Stück, in dem Akteure Programmtexte sprechen, in dem Gesellschaftskritisches dem Werk entnommen und nicht beigegeben wird. Insoweit ist das Debut Goschs in Frankfurt als gelungen zu bezeichnen.

Ein solches Konzept bringt mit sich, daß Gosch von den Schauspielern einiges fordert. Mag sein, daß das neue Ensemble sich noch nicht eingespielt hat. Bis auf Friedrich Karl Praetorius als nie langweiliger, geistreicher, spielerischer Astrov waren die Mitstreiter zeitweise überfordert. Ungeschicklichkeiten im Umgang mit Kostümen und überflüssige Gänge, leere Haltungen und Töne, die wie falsche Schulterstücke schlecht sitzen, abgegriffenes Repertoire, improvisierte Gefühlsausbrüche, ungeübte Schreiereien und Schlägereien, die naturgemäß zu Heiterkeit im Publikum führen, ließen stellenweise Verärgerung aufkommen. Der Applaus kam langsam in Gang. Auf weitere Inszenierungen von Jürgen Gosch kann man dennoch gespannt sein. Thorsten Casmir

Anton Tschechow: Onkel Wanja. Regie: Jürgen Gosch. Bühne: Dietmar Treßman, Kostüme: Bettina Weiler. Schauspielhaus Frankfurt am Main. Nächste Aufführungen: 14., 21.März und 1.April.

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