: Alles umsonst
Über den Film „Die Verfehlung“ von Heiner Carow ■ Von Oksana Bulgakowa
Tote Landschaft steht für totes Land: aufgewühlte Erde, verödete Kohlegruben, ein verlassenes Haus, ein Gefängnishof. In diesen Räumen beginnt der neue Film von Heiner Carow. Ihre schwere Metaphorik wird der Geschichte von der letzten Liebe eine Last aufbürden, unter der sie bald zerbricht.
Die Landschaft steht für ein zerstörtes und zerstörerisches Land, das gegen seine Bürger mit unverständlicher Strenge vorging und Aggressivität erntete. Das Geschichtsdrama wird in ein Liebesmelodram verpackt. Es war einmal... Angelica Domröse, ehemaliger Star aus früheren DEFA-Filmen, spielt nun eine Oma. Jörg Gudzuhn, der feinfühlige, nervöse Held aus dem Maxim- Gorki-Theater und später Deutschen Theater, gibt einen heruntergekommenen Alkoholiker und Bürgermeister. Für dieses Amt ist er viel zu leidenschaftlich: Vor Jahren hat er den Liebhaber seiner Frau aus dem Fenster geworfen, jetzt beschimpft er die „Totengräber des Sozialismus“, seine Vorgesetzten.
Gottfried John, ein kalter Fassbinder-Typ, hier als romantischer Liebhaber pur. Perfekter Rollentausch. Die Schauspieler treten immer etwas daneben. Die Domröse kann sich nicht entschließen, eine alte Frau zu sein, die unmöglich angezogen ist. Nach 35 Minuten legt sie Schürzenkleid, Wattejacke, Stiefel und Armeemütze beiseite und schlüpft in die gewohnten Klamotten: Seidene Unterwäsche, schwarze Strümpfe und der wunderbar leger geschnittene Mantel einer Fernsehdarstellerin. Johns Augen leuchten blau, der expressionistischen Nase zum Trotz. Nur Gudzuhn hat keine Scheu, ein armer Ossi zu bleiben, echt und kläglich wie seine künstliche Lederjacke.
Die drei erspielen eine herzzerreißende Geschichte: mit Hysterie, Liebe auf den ersten Blick, Erotik, mit einem Revolver, der nach dreißig Minuten zufällig ins Bild gerät und am Ende gesetzmäßig losknallt. Und das alles in der absoluten Tristesse der DDR-Provinz, kurz vorm Verschwinden! Dazu paßt eine Liebe kurz vor Toresschluß (zwischen einer grauhaarigen Reinigungsfrau und einem Hafenarbeiter) ganz gut. Carow könnte dieses erklärte Melodram so stehen lassen: Er aus Hamburg, sie aus Bubenau; die „Vopos“ holen ihn aus ihrem Bett, weil er kein gültiges Visum hat, dank der Diensteifrigkeit des in seine Reinigungskraft verliebten Bürgermeisters. Das deutsch-deutsche Rührstück ist in sich geschlossen, und alle Fauxpas ihrer Darsteller bedienen seinen theatralischen Gestus. Paul und Paula nach vielen Jahren: Mauergeschichten haben derzeit Konjunktur, romantische Kolportagen sowieso.
Aber das ist dem Regisseur jetzt zu wenig. So münzt er zusammen mit seinem Autor das Rührstück in ein Lehrstück um: Die Verfehlung muß mindestens zu einer neuen Mutter Courage werden. Angelica Domröse werden zwei Söhne beigegeben; der eine ein Streber, später Politjournalist — spießig wie das ganze Land in den Filmen Carows. Für ihn gibt es nur den Vater Staat, weil allein von dort höchste Liebe und Anerkennung kommen können: die Erlaubnis, legal das Land zu verlassen (als Auslandskorrespondent in Bagdad). Der zweite Sohn ist natürlich das Gegenteil: musisch und verletzlich, singt in der Kirche, ist in der Opposition und endet in der psychiatrischen Anstalt, nach Stasi-Verhören. Die Mutter versucht den Dissidenten mit frischen Landäpfeln zu heilen und den Streber mit Liebesbriefen umzuerziehen, beides klappt nicht. Die Verzweiflung schlägt in Aggressivität um, sie schießt auf den Bürgermeister — auf den Staat, der sie vergewaltigen will, die DDR. Carow ist so direkt, naiv und liebt den Kitsch so offen, wie selten einer dazu den Mut hat.
Das Schicksal der kleinen Leute in diesem Jahrhundert. Carow schaut auf sie von oben. Aus der Luft. Am Ende läuft die Domröse wieder in der Wattejacke, diesmal im Gefängnishof. Der Liebhaber steht vor ihrem verwüsteten Haus, der Bürgermeister ist tot. Der eine Sohn sitzt im Irrenhaus, der andere lernt wahrscheinlich um, „auf“ Management. Aufschwung Ost. Grenzgeschichte, Altersliebe, Söhne, Feinde, Kohle — alles in einem. Ein Abschiedsfilm von der DDR.
Es ist leicht, den Regisseur und seinen Film auszulachen. Doch Die Verfehlung hinterläßt eine eigenartige Wehmut. Beigesteuert von der Geschichte, der realen, die Carows Film vollendet hat. Perfekter als der Regisseur es vermochte — mit der unsicheren Kamera und einer eitlen Hauptdarstellerin. Alles war umsonst. Umsonst hat der Bürgermeister getrunken und seine Nerven im Streit mit den unsichtbaren Vorgesetzten verloren. Umsonst hat der Streber sein Leben lang in Angstschweiß gebadet. Umsonst hat der andere Sohn in der Kirche gesungen — und umsonst hat die Reinigungsfrau ihren eifersüchtigen Verehrer erschossen. Die Mauer ist weg. Die Kirche hätte lieber Moses' alte Gebote gepredigt (zum Beispiel „Du sollst nicht töten!“) — dann hätten ihre Würdenträger heute mehr Ruhe vor dem Pfarrer Gauck und seiner Behörde.
Heiner Carow: Die Verfehlung. Kamera: Martin Schlesinger. Mit: Angelica Domröse, Gottfried John, Jörg Gudzuhn, Dagmar Manzel u.a. Deutschland 1992, 105Minuten.
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