Wir warten mit den Schauspielern vor dem Zelt

■ Künstlerischer Offenbarungseid der Freien Volksbühne mit der letzten Premiere: Kleists »Robert Guiskard«-Fragment

Langweilig-sülzige Musik wabert widerlich. Der Mann, der das komponiert hat, hört auf den Namen René Nuss — und genau so klingt das Zeug auch. »Ihr Himmelsscharen, ihr geflügelten, steht uns bei«, ödelt die Schauspielerin Maria Graefe; wenn Kleist so geistlos heruntergequatscht wird, denke ich an Vorabendserien der ARD und frage mich, ob Frau Graefe sich ihren Sprach- oder Gefühlsschaden da geholt hat. In bewegten Großaufnahmen werden Mund und Augen des Protagonisten auf ein hellgraues Zelt projiziert: Hermann Treusch als angeblicher Robert Guiskard im gleichnamigen Fragment des Heinrich von Kleist, sozusagen in der Videoclip-Klasse — irre! Noch nie dagewesen! Ich habe einen Mittelplatz und daher das seltene Vergnügen, den hochgeschätzten Schauspieler Ulrich Kuhlmann beim Sprechen von hinten betrachten zu können; leider verdeckt er dabei auch noch (für die angeblich so privilegierten Mittelplatz-Inhaber) seinen Szenenpartner Hermann Treusch in voller Breite. Dazu lese ich später im Programmheft die subtile ästhetische Theorie des Regisseurs Frank Hoffmann: »Ein Großteil des Stückes wird... mit dem Rücken zum Publikum gespielt. Das könnte ein Nachteil sein, ich begreife es aber als Chance: der Zuschauer hat die Perspektive des Schauspielers, beide warten gemeinsam vor dem Zelt...« — Und da begreife ich erst: Ich sitze nicht im Theater, um unterhalten, erschüttert, belehrt oder gerührt zu werden. Ich bin da, um gemeinsam mit den Schauspielern vor dem Zelt zu warten.

Der Regisseur, der in Zeiten wie diesen zweifellos eine glänzende Karriere vor sich hat, wird vielleicht eines Tages noch auf die Idee kommen, die Mimen von oben, unten oder gar innen zu präsentieren. Himmel — man wird doch irgendwo noch ein paar Kubik Plexiglas u. dergl. auftreiben und abgreifen können! Am Ende einer angeblichen Kleist-Inszenierung kaltes Licht und pseudomusikalischen Lärmterror einsetzen; sich für wahrhaftige Schauspielerei weder interessieren noch als kompetent erweisen; mürben, hohlen Ästhetizismus in der denkbar belanglosesten Robert-Wilson-Epigonen-Art »inszenieren« — das bringt zwar einen Teil des Publikums bei der Premiere zum Buhen, ist aber exemplarisch für das, was die jüngeren Regisseure des deutschsprachigen Theaters in ihrer Mehrheit an Substanz zu bieten haben. Tatsächlich waren auch bei dieser Premiere wieder ein paar juvenile Mode-Trottel zu hören, die vernehmlich »Bravo« schrien.

Das, was die Theaterleute selbst oft respektvoll Handwerk nennen, stirbt offenbar aus. Die Abwicklung und Schließung der Freien Volksbühne hat mit diesem traurigen Prozeß durchaus einiges zu tun. Der Anfang vom Ende, das Einbiegen in die Zielgerade zur Schließung eines früher ruhmreichen Berliner Theaters, war das, was mehr oder weniger Eingeweihte den Neuenfels-Putsch nennen. Die Absägung des großen Intendanten Kurt Hübner, der immerhin noch Zadek, Grüber, aber auch spannende Jungregisseure arbeiten ließ — aber eben auch den ebenfalls genialischen, leider aber völlig verstiegenen Neuenfels. Der verkleinerte ohne Not den Zuschauerraum, baute ein Ensemble auf, dessen Zusammensetzung, dessen vermutete Kooperations- und Spannungsmöglichkeiten wohl ewig sein Geheimnis bleiben werden — und er verhob sich in seinen Inszenierungen immer mehr zu gewaltigen Ornament- Orgien, die mehr und mehr unter Ausschluß der Öffentlichkeit abgefeiert wurden. Dazu verschob dieser Groß- Chaot so viele Premieren, daß die allseits hämisch verachteten und fürs Theater doch so wichtigen Abonnenten sauer wurden. Mit seinem Adlatus Harry Reichs- Eber (oder so ähnlich) führte er das große Geld-Abzocken ein. Das Theater soff immer mehr ab.

Hermann Treusch, sein Nachfolger, hat sich in die Schlacht geworfen und getan, was er konnte. Aber vom Fußball weiß man, daß durch Kampf allein kein Spiel entsteht, höchstens das eine oder andere Tor. Einen ästhetischen Offenbarungseid wie die jetzige Robert Guiskard-Blödnis konnte oder wollte Treusch offenbar nicht verhindern. Wenn ein Theater mal ganz unten ist, taumelt alles nur noch kunstlos von Premiere zu Premiere.

Die Freie Volksbühne hätte eine Chance gehabt, damals, wenn sie von Hübner ruhig und geordnet auf einen auch organisatorisch und psychologisch fähigen Intendanten übergegangen wäre. So wie sie statt dessen heruntergewirtschaftet wurde, war sie auch vom leidenschaftlich ackernden Treusch nicht zu retten. Sie muß wirklich geschlossen werden. Traurig ist es trotzdem. Vielleicht lernt die Kulturbürokratie was draus. Theater sind nun mal hochdelikate soziale Organismen, die man nicht abenteuerlichen Glücksrittern in die Finger geben darf. Übrigens, das jüngste Gerücht von der Premierenfeier: Hans Neuenfels soll wieder in Berlin inszenieren. Ich weiß noch nicht wo. Vielleicht wird's große Kunst. Mal sehen, ob es hinterher das Theater, an dem das stattfand, noch gibt. Klaus Nothnagel