piwik no script img

Vom hohen Niveau des blauen Porzellans

Eine monumentale Biographie über Oscar Wilde  ■ Von Wilhelm Schmid

Da hat einer die halbe Existenz investiert, nur um dieses Buch vorzubereiten, dessen Publikation er nicht einmal mehr selbst erleben konnte. Richard Ellmann, der amerikanische Literaturwissenschaftler, der 1987 starb, hat für die definitive Arbeit über Oscar Wilde gesorgt, die lange Zeit nicht mehr zu übertreffen sein wird. Daß er diese Arbeit geleistet hat und daß sie nun auf so großes Interesse stößt, zeigt, daß das Phänomen Oscar Wilde noch heute, nach hundert Jahren, nichts an Aktualität eingebüßt hat. Man muß vielleicht sogar sagen, daß er nun erst zu einer Aktualität findet, nämlich in der Zeit der Postmoderne, die man ja des Ästhetizismus bezichtigt. „Wilde ist einer von uns“, sagt Ellmann.

Aber was heißt schon „Ästhetizismus“? Manche verstehen darunter die Kunst des Blendens, die Betörung durch den schönen Schein, die Wilde in seinen Werken sogar zu einer Tugend erklärte. Die Arbeit von Richard Ellmann ist differenziert genug, um diesen Schematismen nicht zu folgen und statt dessen zu zeigen, was Wilde wirklich unter Tugend versteht: das Spiel der Masken zwar zu spielen, aber die Masken auch wieder fallen zu lassen; Widersprüche nicht unter den Teppich zu kehren, sondern sie zum Ausdruck zu bringen und damit leben zu lernen.

Wildes Unverschämtheiten, Unverfrorenheiten, Boshaftigkeiten, seine Erregung öffentlichen Ärgernisses und sonstiges Aufsehenerregen, kurz seine Freimütigkeit führten sicherlich dazu, „so richtig Furore zu machen“. Aber das allein ist nicht Wilde. Er ist nicht nur ein Zyniker, sondern eine kynische Existenz mitten in der Moderne; das heißt, er ist einer, der ein anderes Leben im Blick hat. Als echter Kyniker führt er ein Leben in voller Öffentlichkeit, mitten auf dem Marktplatz, auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten, den er in der Gestalt des Kunstkritikers betritt, um weit mehr zu bieten als nur Kunstkritiken im Sinne des Wortes. Er übt Widerspruch und reißt Widersprüche auf. Der englischen Gemütlichkeit will er den Garaus machen. Er klagt das „triste England“ an mit seinem „abscheulichen Maschinenkult“: „Das Übel, das Maschinen anrichten, findet sich nicht nur in ihren Produkten, sondern auch darin, daß sie die Menschen selbst zu Maschinen macht. Wir dagegen wünschen uns die Menschen als Künstler.“

Herrlich ist der Hohn und Spott, mit dem Wilde auch die hehren Weisheiten der Philosophie überschüttet wie einst der Kyniker Diogenes die Lehren Platons: Er, Wilde, habe alle Lehrgebäude in einen Satz gefaßt, „und das ganze Dasein in ein Epigramm“, rühmt er sich. Es ist das Bonmot, an dem er beständig feilt: die Verkürzung einer Aussage auf einen einprägsamen knappen Satz, ein kynisches Stilmittel — wohl wissend, daß weiter als bis zur Aufnahme einer einzigen Sentenz der Atem der Aktualität ohnehin nicht mehr ausreicht. Es handelt sich um eine Kunstgattung, in der er sich lange übt, um sie zur zentralen Ausdrucksform seines Zynismus und Kynismus zu machen, und mit der er heute noch omnipräsent ist, denn für einen flotten Spruch ist er immer gut. Einer der frühesten und berühmtesten: „Es fällt mir von Tag zu Tag schwerer, auf dem hohen Niveau meines blauen Porzellans zu leben.“

Ernst und Hohn, Ironie und Selbstironie überkreuzen sich hier unauflöslich und haben ihren banalen Grund in luxuriösen blauen Porzellanvasen, in die Wilde Lilien steckte, die Blume der Präraffaeliten, um sein Intérieur zu stilisieren. Das blaue Porzellan markiert das hohe Niveau, von dem er nur abstürzen kann, und Wilde nimmt den Absturz in Kauf. Die Lilien, Zeichen der Üppigkeit wie der Enthaltsamkeit, symbolisieren jedoch auch seine beharrliche Arbeit an einem anderen Leben, das ihn erst zum Kyniker macht, der freilich seinen Zynismus darüber nicht vergißt. Wenn einer gestorben war, konnte er die bissige Frage stellen: „Hat er denn überhaupt gelebt?“

All das erfährt man bei Ellmann, und manches liebgewordene Klischee über den „Ästheten“ Oscar Wilde zerstört er mit leichter Hand. Öde ist dieses Buch nie, insofern wird er seinem Gegenstand vollkommen gerecht. Zugleich läßt er kein Detail aus: Diese Verfahrensweise und die Erschließung von sehr viel unveröffentlichtem Material ist dafür verantwortlich, daß wir es dabei mit einem Wälzer von über 800Seiten zu tun haben. Die Übersetzung ins Deutsche mußte da zwangsläufig selbst zur Mammutarbeit werden, die Hans Wolf gedudig, sorgfältig und mit Bravour bewältigt hat.

Es ist klar, daß sich der Leser bisweilen im Dschungel der Details, der Namen und der vielfältigen Beziehungen verliert. Aber die Geschichte ist nun einmal komplex. Und man tut gut daran, sich mit der Komplexität vertraut zu machen, statt dem Glauben zu frönen, daß das Leben, zumal das Leben Oscar Wildes, etwas Einfaches, Leichtes sei, das sich von selbst versteht. Das hat Oscar Wilde vorgeführt, und Richard Ellmann ermöglicht es uns, ihn dabei zu begleiten. Nicht ohne Gewinn für unser eigenes Leben: Für die Lektüre eines dicken Schinkens braucht man eine Woche Zeit — Zeit genug, um sich auch über das eigene Leben ein paar Gedanken zu machen. Die ideale Lektüre für die Fastenzeit.

Richard Ellmann: Oscar Wilde. Aus dem Amerikanischen von Hans Wolf, Piper Verlag, München 1991, 868Seiten, geb., mit 63 Abbildungen, 88DM.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen